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Tagebuch 1926
zu schnitzen hatte, viel weniger gezahlt bekommen
als für die ganz durch geschnitzten anderen Figuren.
Der teuerste war der Engel vom Ölberg ; so eine Akt-
figur macht immer am meisten Mühe
…26
Am Nachmittag haben wir im öffentl[ichen] Gar-
ten gesessen, eigentlich eine Wallpromenade zwi-
schen prachtvollen Gärten. Ich habe zu zeichnen
versucht, aber der hemmungslose Betrieb um mich
herum hat mich zu nervös gemacht. Vielleicht auch
die Luft ; vielleicht auch
…
Granada 1. Mai 1926.
Wo bin ich stehen geblieben ? Ach ja am Passeo in
Murcia. Die Landschaftseindrücke – Ortswechsel
sind so stark, jeder Tag ist himmelweit vom vergan-
gen. Also wir fuhren am Abend um ½ 8 von Mur-
cia ab (nach Lorca) ; gleich bei der nächsten Station
mußten wir umsteigen und auf dem Bahnsteig eine
Stunde und mehr auf den Zug der uns weiter führen
sollte, warten. Ich saß auf Hansens Koffer und trank
zwei Eier aus und warf die Schale weit hinaus über die Geleise. Ein Wunder – sie
zerbrachen nicht. Spanien, das Land der Wunder … Die dicke Orangenverkäuferin
holte sie zurück, „sie wollte ihre Clavel (Nelke) hineinpflanzen“. Die Züge hier haben
vorweltliche Coupés, bei denen der Kondukteur außen herum klettern muß. W. C.
fehlt, aber in den Stationen ist ausreichend Aufenthalt. Das Funserl oben hat mich
verlockt, Hans in Nachtstimmung auf seinen Koffer gestützt, wie Cato auf d. Ruinen
Karthagos, zu zeichnen
…
Gegen ½ 12 kamen wir mit großer Verspätung in Lorca an, wo glaub ich, noch nie
ein offizieller Spanienreisender war. Ein rattelndes Fuhrwerk brachte uns in den weit
von der Bahn abliegenden Ort, in ein vorzügliches Hôtel, – der Morgen erst zeigte
uns das malerische Städtchen, das sich den steilen Berg hinauf bis zur (maurischen)
Kastellruine hinaufzieht. Eine große Rokokokirche, die so aussieht, wie der Dom in
Murcia ausgesehen hätte, wenn der Restaurator des 18. Jhs dort freie Hand gehabt
hätte. Wir waren sehr vergnügt, die Reise nach Granada hier unterbrochen zu haben,
sie bleibt ohnedies noch lang genug von Mittags bis Mitternacht
–
Und doch nur um die 4 letzten Stunden zu lang, wenn’s draußen finster geworden
ist. Sonst ist so viel draußen vor den Fenstern und drinnen an den Leuten zu sehen,
daß man es nicht bedauert, daß der Zug so lächerlich langsam fährt. Er kommt nur
an wenigen größeren Orten vorbei ; die Bahnhöfe sind so voll, daß einem Angst und
Bange um sein Plätzchen wird – am Schluß steigen zwei Leute ein. Und auch diese
Abb. 75 : „Wer wird früher sterben – du oder ich ?“,
Pablo Picasso, La Celestina, 1903–1904.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien