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Tagebuch 1926
packte, auf die Strohmatte vor ihr Bett spuckte. Wenn
man bedenkt, daß es eine Engländerin ist, die sich
diese Schweinerei gefallen lassen muß ! Netter ist das
Haus der Labradores ein andres Trianon, aber schon
aus d. 19. Jh. (1806). Am späten Nachmittag kamen
wir mit der Schnackerlbahn nach Madrid und in die
uns von der Leipziger Studentin so warm empfohle-
nen Pension. Post war da u. a. vom Kristallverlag, der
mir den günstigen (!) Erfolg der Subskription mit-
teilte – 17 Personen am 29. Zum Verzweifeln ! Und
ich kann von hier doch nichts dafür tun
… Auch von
Georg eine Nachricht, er schrieb, daß 60 % gedeckt
wären
…44
Wir gingen unsre Verstimmung und das sehr
laute Zimmer, wo wir bis zum 17. aushalten müssen
übertönen bald wieder auf die Straße. Die Stadt ist
lebendig wie ein kleineres Paris ; die Leute sind le-
bendig u. auch die Prospekte wirken so wegen der
Terrainunterschiede. Wir blieben in Gärten, Bum-
mel, Abendessen u. Kino (Madame Sans-Gêne) bis
es zu unserem Erschrecken 1 Uhr vorbei war
– unsere
Hausleute, die uns doch noch gar nicht kannten, mußten sich ein schönes Bild von
uns gemacht haben ; wir hatten weder Haus- noch Türschlüssel, keine Zündhölzchen.
Gottseidank entdeckten wir, daß man sich hier sowie in Berlin durch einen Nacht-
wächter aufsperren läßt u. alles verlief gut.45
13.V.1926
Endlich konnten wir einmal die Koffer auspacken
– wir wollen ja länger als irgendwo
hier bleiben. Um 10 Uhr – man sperrte gerade auf – in den Prado. Das ist ein gro-
ßer großer Genuß. Tizian – den stärksten Eindruck haben mir die 3 Königsbilder
gemacht, vor allem d. reitende Karl V. Velazquez der Höhepunkt. Wieder der Hö-
hepunkt. Das Ergreifendste die vier (kleinen) Zwergbilder ; wie Symbole von Künst-
lerexistenzen, aus ihren Leiden müssen sie ihren Stolz u. ihr Geschäft machen. Tief
ergreifend. Danach wollte uns nichts mehr gefallen. Aus dem Grecosaal stürzten wir
hinaus, nach Velazquez wirkte diese Kunst artistisch, vielleicht überhaupt in solchen
Massen genossen immer artistisch
– so schnell leben wir, ich dachte Greco würde der
stärkste Eindruck werden. Von Goya der Saal vor allem das k[öni]gl[iche] Familien-
bild. Die nackte Maja zu porzellanen, die bekleidete zu unstofflich – ja wie ein […].
Rubens war nach Velazquez ungenießbar. Unvergleichlich kam Dürer wieder ganz
stark zu Wort und die herrlichen Bosch u. Patinier. Raffael hat einen Saal für sich
Abb. 85 : Gegen Ende ihres Lebens wandte sich
Erica Tietze-Conrat dem Thema „Zwerge und
Hofnarren in der Kunst“ erneut zu, in : Dwarfs and
Jesters in Art, 1957.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien