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Tagebuch 1926
doch sind es zumeist Schülerausführungen ; wunder-
bar nur ein Portrait das jungen Kardinals, ahnungs-
reich verhalten u. wie ein Rätsel gemalt, und dann das
Mysterium aus Mondlicht und Edelsteinen gewoben
der schillernden „Perle“. Nie hätte ich geglaubt, daß
dieses Bild so schön ist. Die Landschaft darauf wie
von Altdorfer … Erwartung u. Erfüllung der kleine
Mantegna : Tod Mariae mit den Teichen von Mantua
im Hintergrund
…46
Am Nachmittag waren wir – ein Pflichtweg – in
der modernen Galerie, die alle „Künstlerhausbilder“
der Welt, vornehmlich Spaniens gesammelt haben.
Auch Österreich ist vertreten : La barca verde von
Maggy und eine Vedute (Avila) von Prinz Hohenlohe.
Ich habe beide Namen nie gehört. Vom nachbarli-
chen Frankreich d. 19. Jhs nicht ein einziger Meister,
der den Impressionismus repräsentieren würde ! End-
lich noch eine kleine deutsche Graphikausstellung,
die A. Kuhn zusammengestellt hat u. die mit Thoma,
Liebermann, Slevogt, Corinth anfängt u. bis Gra-
matté heraufreicht. Sie war mit Heftnägeln alphabethisch gehängt, nur OK war mit
Käthe Kollwitz ein wenig durcheinander geraten. Noch endlich ein moderner Spanier
(Kollektiv) in d. Art des Adams, da hab ich aber nichts mehr gesehen. Jetzt sitzen wir
im Park u. ruhen aus.47
15.V.1926
Vom gestrigen Tag ist nichts wesentliches zu berichten ; wir waren in der Früh in der
Galerie der Akademie wo eine hübsche Sammlung alter Meister in schlecht belich-
teten Sälen und ein widerlicher zeitgenössischer Akademieprofessor in gut belich-
tetem untergebracht ist. Die Goyas sind so schlecht verglast, daß man gelegentlich
einer Ahnung eines Details habhaft wird. Dann zweiter Besuch im Prado ; diesmal
zuerst bei Greco. Das ist gewiß ein exzeptioneller u. ungeheuer wichtiger ganz Gro-
ßer gewesen – aber durch das viele Ausgeschrotete, durch das Zugänglichmachen d.
Nachfolge so einleuchtend geworden, daß er für uns ein Akademiker werden mußte.
Man ist nämlich nicht nur von sich aus ein Akademiker, man kann es auch durch
die Nachfolge werden. Dafür die große Goyasammlung ! Die Angstträume, die er
an die Wand projizieren mußte
– mit denen er sein Haus so unheimlich machte, wie
es gewiß auch der Bewohner war – die beiden Revolutionsbilder, das ist alles uner-
hört packend. (Weniger, versteht sich, die Serie der dekorativen Gobelinentwürfe).
Den Abend haben wir uns mühsam ein Billet zur heutigen Corrida gekauft, nachher
Abb. 86 : Mantegna, Der Tod Mariä (Ausschnitt),
um 1462, Museo del Prado.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien