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Tagebuch 1926
keinem der 19 Bilder, ob es Original, Werkstattbild oder Kopie ist ; im Hause del
Greco (daneben), das der jetzige Besitzer dekorativ angefüllt und d. Publikum ge-
öffnet hat, stehen einem die Haare zu Berge, wie viel Naivität hier das künstlerische
Milieu herstellen wollte ; die riesenvergrößerte Photographie von Papst Innozenz X
(nach d. Velazquezbild) in breitem schwerem Goldrahmen ist das groteske Symbo-
lum dieses Beginnens. Und wie schwer war es uns in dieses Haus nur zu gelangen !
Immer wieder mußten wir in eine Kirche am Weg hineinschlüpfen oder uns in einer
tiefen Tür unterstellen. Zweimal haben uns die Bewohner hineingeholt und auf dem
gelbseidenen Polsterstuhl in der guten Stube rasten lassen, bis der ärgste Guß vorüber.
Das eine mal war es die Gattin eines Tomatenkonservenfabrikanten, die uns versi-
cherte, wie gut der Regen für die Tomaten wäre
…52
Um fünf Uhr brach der blaue Himmel durch und im Augenblick war die abschüs-
sige Stadt wieder trocken. Wir gingen zufuß zur Bahn und blieben am Weg noch
nach dem Puente de Alcantara sitzen,
– mit dem Greco die Stadt gemalt hatte
– und
ließen die gute Sonne auch unsere nassen Mäntel und Schuhe trocknen. Ich hab in
der Eisenbahn einen Trinkspruch gedichtet.53
Hoch steigt die flache Schale ins Licht
–
Einen Atemzug lang die Welt atmet nicht.
Riesenberge in Haufen,
In einem winzigen Stein,
Meere schrumpfen in Wasserlache ein
–
Und endlich auch verhetztes Menschenlaufen,
Zunge heraus,
Schweigt hinter der grauen Mauer.
Einen Atemzug lang
– und dann
–
Stoßt an !
Die Pause zerbricht
–
Meere auffluten,
Berge springen in das gespannte Gesicht
–
Niedergerannt die Mauer,
Menschen bluten wieder
–
Stoßt an !
Heute war ein schöner friedlich[er] Morgen. Zuerst zwei Kirchen, die eine mit einem
späten Goya, ganz dunkel, ein Bild wie es den Daumier beeinflußt haben könnte
(S.
Antonio-Kirche). Und ein auch ganz später Rubens, der hl. Andreas in der Kirche
dieses Heiligen. Es ist wie ein Manifest. Er nimmt das Sterben seines Heilands auf,
mit offenen Armen empfängt er den Tod – so ist die Kreuzigung des Andreas aufge-
faßt. Und zu Füßen eine Frau, die an die hl. Magdalena und zur Seite ein Reiter, der
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien