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Tagebuch 1926
die Kinder wandern aus. In der Eisen-
bahn hört man in ihren Gesprächen kein
Wort öfter als America – America. Ich
hab zwei alte Frauen miteinander reden
hören ; mit den leichten Tränen, wie sie
Armut und Alter haben erzählte die eine,
wie sie jetzt allein sei, seit dem der Mann
gestorben, die cincos hijos alle in Ame-
rika
…
Gegen Abend kamen wir nach Santi-
ago ; die einsame Fahrt vorher hatte uns
das greifbare Bewußtsein gegeben : am
Ende Europas zu sein, ganz weit weg
von der übrigen Welt – und doch mit
einem Ziel. Es war wohl wie ein ganz
schwacher Widerschein von dem, was
die Tausende u. Tausende hier gefühlt
haben, die am Ende ihrer monatelangen
Pilgerfahrt hier ankamen. Die Stadt ist
ernst und feierlich, dunkelgrauer nack-
ter Granit vor dem tiefblauen Himmel
(Die Regenmengen in Santiago sind
unvergleichlich größer als im übrigen
Spanien, aber da heuer alles verkehrt ist,
hatten wir gerade hier das blaueste Wet-
ter). Die Kirche nach außen kühn baro-
ckisiert mit einer Freitreppe zwischen
den gotischstreberischen Filigrantürmen. Der Eindruck innen ist das drohende
Mysterium einer großartig verhaltenen romanischen Kraft. Das Detail spielt darin
kaum eine Rolle. Einmal nur wie eine kleine kindliche Überraschung am Ende einer
Stiege das romanische Pförtlein in einer Kapelle mit einer Anbetung der Könige wie
als improviso hineingesetzt. Aber das stärkste u. künstlerisch vielleicht kostbarste
Erlebnis von Spanien die Portíco de la Gloria ! Es ist der Skulpturenschmuck der
Vorhalle mit den drei Portalen an der Westseite, deren Türen immer verschlossen
sind ; die Skulpturen in wundervoller Polychromie die jede isoliert, daß sie beson-
ders intensiv wird und sie dann doch einheitlich zum Gesamteindruck zusammen-
schließt. Die Köpfe haben den Adel unseres Bamberger Reiters und hinreißende
Bewegungsimpulse. Ein Engel mit einer Seele an den Leib gedrückt, der zu Christus
hinüber lauscht – die bartlosen Evangelistenhelden, die Paare der heiligen 24 Män-
ner die im Bogen herum sitzen, ihre Instrumente stimmen
– unten am Fuß der Säu-
Abb. 89 : Kathedrale von Santiago de Compostela.
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien