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Tagebuch 1926
Schächern, die vielleicht dem Ende des 12. Jhs. angehört ; ein verwandter Typ in der
nahegelegenen Kirche St. Juan ist in die Zeit 1252–5 ? datierbar – wir haben nur d.
Photogr[aphie] gesehen
– u. ein 3. Stück desselben Typs soll eine Privatsam[m]l[ung]
in Barcelona haben. Nach Tisch blieben wir erst zuhause u. schrieben auf einer Art
Terrassengarten, dann ein Stündchen spazieren, bis es regnete, regnete, regnete
…69
In der Nacht sang der Sereno (Nachtwächter) seine Strophen
…
8.VI.
Das war gestern ein voller Tag. Früh am Morgen hat er angefangen, wir fuhren nach
Ripoll, wo wir den Zug überschlugen, um die Kirche zu sehen. Sie ist ganz rein roma-
nisch, nicht bedeutend, aber doch als ein so frühes Beispiel, das nicht plateresk oder
barock überarbeitet wurde, beachtenswert. Sehr malerisch der ganze Ort schon hoch
in den Bergen, von einem Fluß
– die kleine Meder (!)
– durchflossen. Dann weiter hi-
nauf bis zum Ende der Eisenbahn
– Puigcerda. Wunderbar steinern aufgebauter Ort
in einem ganz großen, fast wie eine Hochebene wirkenden – u. windigen – Kessel
gelegen, den rings im Kreis herum die beschneiten Berge einschließen (1100 m). Die
Bäume schlagen z[um] T[eil] erst aus. Wir bestiegen einen Plachenwagen, in dem wir
wie in einem Gefängnis mit undurchsichtigen Mauern sitzen u. treten unsere Grenz-
reise an. Unser Gewissen ist nicht ganz rein ; eigentlich hatten wir den Grenzübertritt
in Irun angemeldet u. dorthin die vorgeschriebenen Photographien geschickt – das
war unsere spanische Sünde ; und eigentlich hatten wir ja in Marseilles beim Hin-
weg französ[ischen] Boden betreten, also eigentlich das französische Visum, das wir
in Wien bekommen hatten, schon verwirkt – wenn auch d. Marseiller Beamte son-
derbarer Weise keinen Stempel in d. Paß gedrückt hatte. Der Grenzübertritt war
unsagbar spannend. Eine rüttelige Fahrt, alle fünf Minuten blieb unser Gefängnis
stehen u. durch die Plachenwand bereitete uns die Stimme des Kutschers auf die
nächste Tortur vor. El passeporte, oder la douane u. s. w. Die drei spanischen Proben
waren bestanden u. wir atmeten auf. Bei der 2. französ[ischen] zog sich d. Wetter dro-
hend zusammen, Hans musste aussteigen u. wurde einem verbissenen Kommisknopf
vorgeführt. „Ich kann sie nicht nach Frankreich hereinlassen“ – begann er die Rede.
„Mais comment ?“ fragte Hans unschuldig, wie er nicht war. Wenn sie von Wien nach
Spanien gefahren sind, müssen sie schon einmal Frankreich betreten haben. – Non,
Monsieur, es gibt auch einen Seeweg ; ich bin von Genua nach Barcelona per Schiff.
–
Es hat lang gedauert, bis der Alte sich von seiner Blamage erholt hat und grimmig
klein beigab
– und sein Instinkt war doch so richtig gewesen
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Wir atmeten erleichtert auf, als alles endlich gut vorüber war. Die Abfahrt auf ei-
ner elektrischen Bahn war noch tausendmal schöner als die Bergfahrt ;
– trotzdem der
Charakter der spanischen Ortschaften viel einheitlicher in die Landschaft passt, als
die gleichgültigen neu anmutenden französischen. Anfangs war prachtvolles Hoch-
gebirge, den […] entlang, ein breiter Gletscherrücken. Man fährt in Kurven, als ob
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 458
- Category
- Biographien