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und Abgeschlossenes, noch auch etwas allgemein Zu-
treffendes. Bei den meisten wilden Völkern ist das
Bild der Arbeitsteilung zwischen Mann und Weib ein
durchaus anderes als bei den Kulturvölkern. Fast
überall sind die Frauen die ersten Lastträger, die
ersten Ackerbauer, die ersten Baumeister, die ersten
Töpfer, wie überhaupt die industrielle Seite des
primitiven Lebens samt einem groĂźen Teile der
dazu gehörigen ersten Erfindungen ein Werk des
weiblichen Geschlechtes ist. (Siehe Ellis, Mann und
Weib.) Vermutlich wĂĽrde auch die physiologische
Beobachtung dieser primitiven Frauen vielfach zu
anderen Ergebnissen fĂĽhren als diejenige der Kultur-
frauen.
Will man sich aber auf die psychosexuellen Er-
scheinungen innerhalb des europäischen Kulturkreises
beschränken, so wird man vor allem eine Tatsache
berĂĽcksichtigen mĂĽssen, deren Bedeutung nach vielen
Richtungen sehr hoch anzuschlagen ist— die höhere
Stufe der individuellen Differenzierung.
Es ist eine EigentĂĽmlichkeit, die zur Auszeichnung
des Menschen gehört, daß die Geschlechtsanpassung
bei ihm nicht wie bei den Tieren eine generelle ist,
sondern individuell sehr verschieden. Ein Löwe, ein
Pferd, ein Hase sind im Grade ihrer Männlichkeit
und Weiblichkeit durch ihre Gattung und nicht als
Individuen bestimmt. An sich betrachtet ist eine
Löwin ein viel männlicheres Tier als etwa ein Reh-
bock— da man ja, ganz allgemein genommen, ag-
gressive Impulse als Begleiterscheinung der männ-
lichen Differenzierung anspricht—. Aber schon bei
den höchststehenden Säugetieren lassen sich die
Spuren einer beginnenden individuellen Differenzie-
rung bemerken; und innerhalb der menschlichen Gat-
tung sind es nur die ganz primitiven Völker, bei denen
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Zur Kritik der Weiblichkeit
- Title
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Author
- Rosa Mayreder
- Publisher
- Eugen Diederichs Verlag
- Location
- Jena
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 10.5 x 16.5 cm
- Pages
- 316
- Keywords
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorwort 1
- GrundzĂĽge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges ĂĽber die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299