Page - 78 - in Zur Kritik der Weiblichkeit
Image of the Page - 78 -
Text of the Page - 78 -
welche die Erziehung eines Kindes mit der Schaffung
eines Werkes gesetzt wird, nicht aufrecht zu erhalten.
Namentlich die Frauen lieben es, sich mit dieser
Parallele über den Verzicht auf geistige Leistungen
hinwegzutrösten, den ihnen die Mutterschaft auferlegt.
Man weiß ja: die Frauen sollen nichts selber sein
und leisten, sie sollen vielmehr ihre Söhne zu dem
„heranbilden", was ihnen selbst zu werden ver-
sagt ist.
Unter allen verlogenen Direktiven, an denen die
bürgerliche Ethik reich ist, gibt es kaum eine schlim-
mere als diese. Denn sie verführt geradewegs zu
jenem Mißbrauch, der als zielbewußte Pädagogik be-
rüchtigt ist, und sie bereitet jenen naiven Seelen
unter den Frauen, die auf sie ihre Lebensziele bauen,
die bittersten Enttäuschungen. Trotz aller Erziehungs-
künste — wer kann daran zweifeln? — bleibt ein
Mensch das, als was er geboren wurde; ein kleines
Ich wird auch durch die inbrünstigste mütterliche
Hingebung nicht in ein großes, ein Durchschnittskopf
nicht in ein Genie verwandelt. Die Frau, die sich
die Ausübung eines Talentes in der Erwartung ver-
sagt, es bei ihren Söhnen „heranbilden" zu können,
wird in neunundneunzig von hundert Fällen um ihren
Lebensinhalt geprellt sein. Lebet doch euer eigenes
Leben, liebe Mütter, und erspart dafür euren Kindern
die Belastung mit all den Hoffnungen und Wünschen,
die sie als eine Verpflichtung, es im Leben euch
statt sich selber recht zu machen, mit sich schleppen
müssen
Nicht in der Regel, sondern viel eher im Ausnahms-
falle gleichen die Kinder soweit den Eltern, daß ein
völliges Verständnis zwischen ihnen herrschen kann.
Jede Generation entwickelt sich in einem gewissen
Gegensatz zur früheren; die Elterngeneration ver-
78
back to the
book Zur Kritik der Weiblichkeit"
Zur Kritik der Weiblichkeit
- Title
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Author
- Rosa Mayreder
- Publisher
- Eugen Diederichs Verlag
- Location
- Jena
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 10.5 x 16.5 cm
- Pages
- 316
- Keywords
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorwort 1
- Grundzüge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges über die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299