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je höher die soziale Organisation steht, desto reicher
ist sie an Formen, desto mehr individuelle Freiheiten
gewährt sie.
Allein auch die vollendetste soziale Freiheit wird
das Gleichgewicht jener antagonistischen Grundkräfte
zur Voraussetzung haben müssen. Das Individuum
unterdrücken zugunsten der Gesellschaft, ist eine
archaistische Richtung— die Gesellschaft der Will-
kür des unbeschränkten Individuums preisgeben, eine
dekadente. Die konservative Tendenz der Mehrzahl
bildet ein notwendiges und unentbehrliches Gegen-
gewicht zu den Tendenzen der progressiven Geistig-
keit, ohne welches das soziale Leben der Menschheit
ebensowenig bestehen bleiben könnte, wie das Weltall
ohne die Wirkung der Schwerkraft gegenüber der
Flugkraft. Dauer und Stabilität wird den Zuständen
der menschlichen Gesellschaft nur durch die Mitwir-
kung der zentripetalen Geistigkeit verliehen. In Zeiten,
in denen die zentrifugalen Tendenzen das Übergewicht
gewinnen, in den Zeiten der Umwandlung, des Über-
ganges, der „Umwertung", haben die allgemeinen Zu-
stände etwas Haltloses, Unsicheres; alle gültigen Werte
werden Problem, das Leben erschöpft sich in ephe-
meren Gebilden, die aufgehen und verschwinden,
ohne eine dauernde Spur zu hinterlassen. Die Tra-
dition ist ein Werk der konservativen Mehrheit; für
jede Kultur aber bedeutet die Tradition die einzig
zuverlässige Grundlage, das organische Prinzip, durch
das sie erst ein einheitliches Gebilde wird und Kon-
tinuität erhält.
Es ist ein sehr gewöhnlicher Fehler der freien
Geister, daß sie bei der Propaganda der Freiheit die
Beschaffenheit der Durchschnittsmenschen nicht be-
rücksichtigen, daß sie in dem Philister bloß die Eng-
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Zur Kritik der Weiblichkeit
- Title
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Author
- Rosa Mayreder
- Publisher
- Eugen Diederichs Verlag
- Location
- Jena
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 10.5 x 16.5 cm
- Pages
- 316
- Keywords
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorwort 1
- Grundzüge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges über die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299