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päische Kulturmenschheit in ein so erstaunlich ver-
schrobenes und unaufrichtiges Verhältnis zu den
geschlechtlichen Dingen gesetzt hat.
Es gibt zwei Wege, auf denen die Freiheit der
Persönlichkeit vorder Vergewaltigungdes Geschlechts-
triebes zu retten ist: die Askese, die „Ertötung des
Fleisches", zugleich eine Verneinung der Forderung,
welche die Gattung an das Individuum stellt— wo-
bei Abstinenz nur als ein anderer Ausdruck für
Askese gelten kann— oder die Versöhnung jener
beiden feindlichen Interessensphären, dieBejahung der
Gattung im Geiste der Persönlichkeit, welche die
Liebe bewirkt, indem sie die geschlechtlichen Be-
ziehungen mit Persönlichkeitsgehalt erfüllt.
Weder der eine noch der andere dieser beiden
Wege ist es, auf dem die Entwicklung des Jünglings
zum Manne sich vollzieht. Für eine asketische Ord-
nung seines sexuellen Lebens vor der Ehe fehlen
außerhalb der grundlegenden religiösen Vorstellungen
irgendwelche sittliche Werte von suggestiver Gewalt,
die allein den Mut der Selbstüberwindung so hoch
entfachen können; eine Gesellschaftsordnung aber,
die in der Ehe das einzige legitime Geschlechtsver-
hältnis anerkennt und die Erfüllung der Liebe an
wirtschaftliche Bedingungen knüpft, gewährt das An-
recht auf Liebe nicht in jenem Alter, in dem es die
Natur am gebieterischsten fordert. Somit verurteilt
diese Gesellschaftsordnung den Mann in seiner blü-
hendsten Lebensperiode, sich an die tiefststehenden
und niedrigsten Wesen des weiblichen Geschlechtes
zu halten, an jene, die durch die geschlechtliche
Preisgebung ihren Lebensunterhalt erwerben. Daß
ein solcher Erwerb nach der sozialen Bewertung als
entehrend gilt, ist insofern berechtigt, als er ja einen
atavistischen Rückfall des Weibes in die rohesten
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Zur Kritik der Weiblichkeit
- Title
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Author
- Rosa Mayreder
- Publisher
- Eugen Diederichs Verlag
- Location
- Jena
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 10.5 x 16.5 cm
- Pages
- 316
- Keywords
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorwort 1
- Grundzüge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges über die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299