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Abend soll sie beten: „Mein Gott, mache mich sehr
schön." Der Mann hingegen ist ein „herkulischer
Arbeiter", der seine Männlichkeit von früher Jugend
in allen Stürmen des Lebens abhärten soll. Für ihn
ist nichts zu rauh und nichts zu schwer; er muß
Schwielen an Körper und Seele haben. Denn so
wollen ihn die Frauen; sie wollen „ein gutes Kissen,
auf das sie vertrauensvoll ihr Haupt legen können . . .
Um diesen Preis kostet es ihnen nichts zu sagen:
er ist mein Herr— und ihr Lächeln meint: dessen
Herrin ich sein werde". Diese, wie man sieht, „echt
weibliche" junge Dame vermag alles; sie erreicht
spielend und ahnungslos die unerhörtesten Wirkungen.
„Sie ist es, die mit sechzehn Jahren durch ein edles
Wort den Mann über sich selbst hinaushebt, so daß
er spricht: Ich will groß sein." Und nichts Geringe-
res fordert Michelet von dem Auserwählten seiner
Heldin, als daß er sich „aus dem jungen Bürgerssohn,
dem ganz gewöhnlichen Studenten, zu dem edlen,
königlichen, heroischen Wesen" erhebe, von dem sie
stets geträumt habe, und zwar nicht etwa für die
Dauer des Brautstandes und der Flitterwochen, son-
dern für immer, „durch eine entschiedene und gänz-
liche Umwandlung".
So sehen die Direktiven aus, die das wohlerzogene
Mädchen von seinen geistigen Führern für das Leben
empfängt. Wer könnte da noch über die törichte
Illusion der Mädchenintelligenz lächeln, daß die Liebe
jeden annehmbaren Heiratskandidaten in den erträum-
ten Romanhelden und Märchenprinzen verwandeln
müsse! Oder gibt es in der Tat außer siebzehnjährigen
Mädchen jemanden, der im Ernste glaubt, daß der
„ganz gewöhnliche Bürgerssohn" in der Ehe etwas
anderes sein wird als ein ganz gewöhnlicher Bürgers-
sohn?
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Zur Kritik der Weiblichkeit
- Title
- Zur Kritik der Weiblichkeit
- Author
- Rosa Mayreder
- Publisher
- Eugen Diederichs Verlag
- Location
- Jena
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 10.5 x 16.5 cm
- Pages
- 316
- Keywords
- Feminismus, Soziologie, Machtverhältnisse, Geschlechterkampf, Frauen
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorwort 1
- Grundzüge 7
- Mutterschaft und Kultur 48
- Die Tyrannei der Norm 85
- Von der Männlichkeit 102
- Das Weib als Dame 139
- Frauen und Frauentypen 157
- Familienliteratur 187
- Der Kanon der schönen Weiblichkeit 199
- Einiges über die starke Faust 210
- Das subjektive Geschlechtsidol 244
- Perspektiven der Individualität 261
- Nachwort 299