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Erster Abschnitt
Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur
philosophischen
Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken
möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein
ein guter Wille. Verstand, Witz, Urteilskraft und wie die Talente des Geistes
sonst heißen mögen, oder Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze
als Eigenschaften des Temperaments sind ohne Zweifel in mancher Absicht
gut und wünschenswert; aber sie können auch äußerst böse und schädlich
werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll
und dessen eigentümliche Beschaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut ist.
Mit den Glücksgaben ist es eben so bewandt. Macht, Reichtum, Ehre, selbst
Gesundheit und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem
Zustande unter dem Namen der Glückseligkeit machen Mut und hierdurch
öfters auch Übermut, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluss
derselben aufs Gemüt und hiermit auch das ganze Prinzip zu handeln
berichtige und allgemein-zweckmäßig mache; ohne zu erwähnen, dass ein
vernünftiger unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines
ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und
guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann, und so der
gute Wille die unerlässliche Bedingung selbst der Würdigkeit glücklich zu
sein auszumachen scheint.
Einige Eigenschaften sind sogar diesem guten Willen selbst beförderlich
und können sein Werk sehr erleichtern, haben aber dem ungeachtet keinen
innern unbedingten Wert, sondern setzen immer noch einen guten Willen
voraus, der die Hochschätzung, die man übrigens mit Recht für sie trägt,
einschränkt und es nicht erlaubt, sie für schlechthin gut zu halten. Mäßigung
in Affekten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne
Überlegung sind nicht allein in vielerlei Absicht gut, sondern scheinen sogar
einen Teil vom innern Werte der Person auszumachen; allein es fehlt viel
daran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so unbedingt sie auch
von den Alten gepriesen worden). Denn ohne Grundsätze eines guten Willens
können sie höchst böse werden, und das kalte Blut eines Bösewichts macht
ihn nicht allein weit gefährlicher, sondern auch unmittelbar in unsern Augen
noch verabscheuungswürdiger, als er ohne dieses dafür würde gehalten
werden.
Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70