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Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt
Wir haben den bestimmten Begriff der Sittlichkeit auf die Idee der Freiheit
zuletzt zurückgeführt; diese aber konnten wir als etwas Wirkliches nicht
einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen; wir sahen nur,
dass wir sie voraussetzen müssen, wenn wir uns ein Wesen als vernünftig und
mit Bewusstsein seiner Kausalität in Ansehung der Handlungen, d. i. mit
einem Willen, begabt uns denken wollen, und so finden wir, dass wir aus eben
demselben Grunde jedem mit Vernunft und Willen begabten Wesen diese
Eigenschaft, sich unter der Idee seiner Freiheit zum Handeln zu bestimmen,
beilegen müssen.
Es floss aber aus der Voraussetzung dieser Ideen auch das Bewusstsein
eines Gesetzes zu handeln: dass die subjektiven Grundsätze der Handlungen,
d. i. Maximen, jederzeit so genommen werden müssen, dass sie auch objektiv,
d. i. allgemein als Grundsätze, gelten, mithin zu unserer eigenen allgemeinen
Gesetzgebung dienen können. Warum aber soll ich mich denn diesem Prinzip
unterwerfen und zwar als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch
alle andere mit Vernunft begabte Wesen? Ich will einräumen, dass mich hiezu
kein Interesse treibt, denn das würde keinen kategorischen Imperativ geben;
aber ich muss doch hieran notwendig ein Interesse nehmen und einsehen, wie
das zugeht; denn dieses Sollen ist eigentlich ein Wollen, das unter der
Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne
Hindernisse praktisch wäre; für Wesen, die wie wir noch durch Sinnlichkeit
als Triebfedern anderer Art affiziert werden, bei denen es nicht immer
geschieht, was die Vernunft für sich allein tun würde, heißt jene
Notwendigkeit der Handlung nur ein Sollen, und die subjektive
Notwendigkeit wird von der objektiven unterschieden.
Es scheint also, als setzten wir in der Idee der Freiheit eigentlich das
moralische Gesetz, nämlich das Prinzip der Autonomie des Willens selbst, nur
voraus und könnten seine Realität und objektive Notwendigkeit nicht für sich
beweisen, und da hätten wir zwar noch immer etwas ganz Beträchtliches
dadurch gewonnen, dass wir wenigstens das ächte Prinzip genauer, als wohl
sonst geschehen, bestimmt hätten, in Ansehung seiner Gültigkeit aber und der
praktischen Notwendigkeit, sich ihm zu unterwerfen, wären wir um nichts
weiter gekommen; denn wir könnten dem, der uns fragte, warum denn die
Allgemeingültigkeit unserer Maxime, als eines Gesetzes, die einschränkende
Bedingung unserer Handlungen sein müsse, und worauf wir den Werth
gründen, den wir dieser Art zu handeln beilegen, der so groß sein soll, dass es
überall kein höheres Interesse geben kann, und wie es zugehe, dass der
Mensch dadurch allein seinen persönlichen Werth zu fühlen glaubt, gegen den
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70