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Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?
Das vernünftige Wesen zählt sich als Intelligenz zur Verstandeswelt, und bloß
als eine zu dieser gehörige wirkende Ursache nennt es seine Kausalität einen
Willen. Von der anderen Seite ist es sich seiner doch auch als eines Stücks der
Sinnenwelt Bewusst, in welcher seine Handlungen als bloße Erscheinungen
jener Kausalität angetroffen werden, deren Möglichkeit aber aus dieser, die
wir nicht kennen, nicht eingesehen werden kann, sondern an deren Statt jene
Handlungen als bestimmt durch andere Erscheinungen, nämlich Begierden
und Neigungen, als zur Sinnenwelt gehörig eingesehen werden müssen. Als
bloßen Gliedes der Verstandeswelt würden also alle meine Handlungen dem
Prinzip der Autonomie des reinen Willens vollkommen gemäß sein; als
bloßen Stücks der Sinnenwelt würden sie gänzlich dem Naturgesetz der
Begierden und Neigungen, mithin der Heteronomie der Natur gemäß
genommen werden müssen. (Die ersteren würden auf dem obersten Prinzip
der Sittlichkeit, die zweiten der Glückseligkeit beruhen.) Weil aber die
Verstandeswelt den Grund der Sinnenweit, mithin auch der Gesetze derselben
enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt
gehört) unmittelbar gesetzgebend ist und also auch als solche gedacht werden
muss, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur
Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der
Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also
der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der
Verstandeswelt für mich als Imperativen und die diesem Prinzip gemäße
Handlungen als Pflichten ansehen müssen.
Und so sind kategorische Imperativen möglich, dadurch dass die Idee der
Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligibelen Welt macht, wodurch,
wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des
Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich als Glied der
Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen, welches kategorische Sollen einen
synthetischen Satz a priori vorstellt, dadurch dass über meinen durch
sinnliche Begierden affizierten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur
Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens
hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft
enthält; ungefähr so, wie zu den Anschauungen der Sinnenwelt Begriffe des
Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten,
hinzu kommen und dadurch synthetische Sätze a priori, auf welchen alle
Erkenntnis einer Natur beruht, möglich machen.
Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt die
Richtigkeit dieser Deduktion. Es ist niemand, selbst der ärgste Bösewicht,
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Title
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Author
- Immanuel Kant
- Date
- 1785
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 70
- Keywords
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70