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Georg war achtzehn Jahre alt, als seine Mutter starb. Neun Jahre waren
seither verflossen, aber unverblaßt war ihm die Erinnerung an jenen
Frühlingsabend, da Vater und Bruder zufällig nicht daheim gewesen waren,
und er allein und ratlos am Bett der sterbenden Mutter gestanden hatte,
während durch die eilig aufgerissenen Fenster, mit der Luft des Frühlings, das
Reden und Lachen von Spaziergängern verletzend laut hereinklang.
Die Hinterbliebenen kehrten mit dem Leichnam der Mutter nach Wien
zurück. Der Freiherr widmete sich seinen Studien mit einem neuen, wie
verzweifelten Eifer. Früher hatte man ihn nur als vornehmen Liebhaber gelten
lassen, jetzt begann man ihn auch in akademischen Kreisen durchaus ernst zu
nehmen, und als er zum Ehrenpräsidenten der botanischen Gesellschaft
gewählt wurde, hatte er diese Auszeichnung nicht allein dem Zufall eines
adeligen Namens zu danken. Felician und Georg ließen sich als Hörer an der
juridischen Fakultät einschreiben. Aber der Vater selbst war es, der es dem
Jüngern nach einiger Zeit freistellte, die Universitätsstudien aufzugeben und
sich seinen musikalischen Neigungen entsprechend weiter zu bilden, was
dieser dankbar und erlöst annahm. Doch auch auf diesem selbstgewählten
Gebiete war seine Ausdauer nicht bedeutend, und oft wochenlang
hintereinander konnte er sich mit allerlei Dingen beschäftigen, die von seinem
Wege weit ablagen. Diese spielerische Anlage war es auch, die ihn jene alten
Familienpapiere mit einem Ernst durchblättern ließ, als gälte es wichtigen
Geheimnissen der Vergangenheit nachzuforschen. Manche Stunde verbrachte
er bewegt über Briefen, die seine Eltern in früheren Jahren miteinander
gewechselt hatten, über sehnsüchtigen und flüchtigen, schwermütigen und
beruhigten, aus denen ihm nicht nur die Hingeschiedenen selbst, sondern auch
andere halbvergessene Menschen neu lebendig wurden. Da erschien ihm der
deutsche Lehrer wieder, mit der traurigen blassen Stirn, der ihm auf langen
Spaziergängen den Horaz vorzudeklamieren pflegte; das braune, wilde
Kindergesicht des Prinzen Alexander von Mazedonien tauchte auf, in dessen
Gesellschaft Georg in Rom die ersten Reitstunden genommen hatte; und in
einer traumhaften Weise, wie mit schwarzen Linien an einen blaßblauen
Horizont gezeichnet, ragte die Pyramide des Cestius auf, so wie Georg sie,
von seinem ersten Ritt aus der Campagna heimkehrend, in der
Abenddämmerung erblickt hatte. Und wenn er ins Weiterträumen geriet,
zeigten sich Meeresufer, Gärten, Straßen, von denen er gar nicht wußte, aus
welcher Landschaft, welcher Stadt sein Gedächtnis sie bewahrt hatte;
Gestalten schwebten vorbei, manche vollkommen deutlich, die ihm einmal
nur in gleichgültiger Stunde begegnet waren, andere wieder, mit denen er zu
irgend einer Zeit viele Tage zusammen gewesen sein mochte, schattenhaft
und fern. Als Georg nach Sichtung jener alten Briefe auch seine eigenen
Papiere in Ordnung brachte, fand er in einer alten, grünen Mappe
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik