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musikalische Entwürfe aus der Knabenzeit, die ihm bis auf die Tatsache ihres
Vorhandenseins so vollkommen entschwunden waren, daß man sie ihm ohne
weiteres als die Aufzeichnungen eines anderen hätte vorlegen können. Von
manchen war er angenehm schmerzlich überrascht, denn sie schienen ihm
Versprechungen zu enthalten, die er vielleicht niemals erfüllen sollte. Und
doch spürte er gerade in der letzten Zeit, daß sich irgend etwas in ihm
vorbereitete. Er sah es wie eine geheimnisvolle aber sichere Linie, die von
jenen ersten hoffnungsvollen Niederschriften in der grünen Mappe zu neuen
Einfällen wies; und das wußte er: die zwei Lieder aus dem west-östlichen
Divan, die er heuer im Sommer komponiert hatte, an einem schwülen
Nachmittag, während Felician in der Hängematte lag und der Vater auf der
kühlen Terrasse im Lehnstuhl arbeitete, hätte nicht der erstbeste ersinnen
können.
Wie von einem gänzlich unerwarteten Gedanken überrascht wich Georg
einen Schritt vom Fenster zurück. Mit solcher Deutlichkeit war er noch nie
inne geworden, daß seine Existenz seit dem Tode des Vaters bis zum heutigen
Tage gleichsam unterbrochen gewesen war. An Anna Rosner, der er jene
Lieder im Manuskript zugesandt, hatte er die ganze Zeit über nicht gedacht.
Und wie ihm nun einfiel, daß er ihre wohllautende, dunkle Stimme wieder
hören und sie auf dem etwas dumpfen Pianino zum Gesang begleiten durfte,
sobald er nur wollte, war er angenehm bewegt. Und er erinnerte sich des alten
Hauses in der Paulanergasse, des niederen Tors, der schlecht beleuchteten
Stiege, die er bisher nicht öfter als drei- oder viermal hinaufgegangen war,
wie man an Liebgewordenes und längst Bekanntes denkt.
Im Park drüben ging ein leichtes Wehen durch die Blätter. Über der
Stephansturmspitze, die dem Fenster, durch den Park und einen beträchtlichen
Teil der Stadt getrennt, gerade gegenüberlag, erschienen dünne Wolken. Ein
langer Nachmittag, völlig ohne Verpflichtungen dehnte sich vor Georg aus.
Im Laufe der zwei Trauermonate, so wollte es ihm scheinen, hatten sich alle
Beziehungen früherer Zeit gelockert oder gelöst. Er dachte an den
verflossenen Winter und Frühling, mit ihrem vielfach verschlungenen und
wirren Treiben, und allerlei Erinnerungen tauchten bildhaft vor ihm auf: Die
Fahrt mit Frau Mariannen im geschlossenen Fiaker durch den verschneiten
Wald. Der maskierte Abend bei Ehrenbergs, mit Elses tiefsinnig-kindlichen
Bemerkungen über die »Hedda Gabler«, der sie sich verwandt zu fühlen
behauptete, und mit Sissys raschem Kuß unter den schwarzen Spitzen der
Larve. Eine Bergtour im Schnee, von Edlach aus auf die Rax, mit dem Grafen
Schönstein und Oskar Ehrenberg, der – ohne angeborene alpine Neigungen –
gern die Gelegenheit ergriffen hatte, sich zwei hochgeborenen Herren
anzuschließen. Der Abend bei Ronacher mit Grace und dem jungen Labinski,
der sich vier Tage darauf erschossen, man hatte nie recht erfahren, ob wegen
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik