Page - 16 - in Der Weg ins Freie
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»Das werden Sie heuer wohl wieder tun?«
»Ich weiß nicht. Sie hat bisher noch nichts von sich hören lassen. Vielleicht
gibt sie’s ganz auf.«
»Sie glauben?«
»Es wäre beinah zu wünschen«, versetzte Anna sanft, »denn eigentlich hat
sie immer mehr gepiepst, als gesungen. Übrigens«, und jetzt warf sie Georg
einen Blick zu, der ihn gleichsam von neuem begrüßte, »die Lieder, die Sie
mir geschickt haben, sind sehr hübsch. Soll ich sie Ihnen vorsingen?«
»Sie haben sich die Sachen schon angeschaut? Das ist nett.«
Anna hatte sich erhoben. Sie führte beide Hände an ihre Schläfen und strich
wie ordnend, leicht über ihr gewolltes Haar. Sie trug es ziemlich hoch frisiert,
wodurch ihre Gestalt noch größer erschien, als sie war. Eine schmale, goldene
Uhrkette war zweimal um den freien Hals geschlungen, fiel über die Brust
herab und verlor sich in dem grauledernen Gürtel. Durch eine fast
unmerkliche Kopfbewegung forderte sie Georg auf, ihr zu folgen.
Er stand auf und sagte: »Wenn’s erlaubt ist… «
»Bitte sehr, bitte sehr, natürlich«, sagte Herr Rosner. »Herr Baron wollen so
freundlich sein, mit meiner Tochter ein wenig zu musizieren. Sehr schön, sehr
schön.« Anna war in das Nebenzimmer getreten. Georg folgte ihr und ließ die
Tür offen stehen. Die weißen Tüllvorhänge vor dem geöffneten Fenster waren
zusammengesteckt und bewegten sich leise.
Georg setzte sich an das Pianino und griff ein paar Akkorde. Indes kniete
Anna vor einer alten, schwarzen, teilweise vergoldeten Etagere und holte die
Noten hervor.
Georg modulierte in die Anfangsakkorde seines Liedes.
Anna fiel ein, und zu Georgs Melodie sang sie die Goetheschen Worte.
»Deinem Blick mich zu bequemen,
Deinem Munde, deiner Brust,
Deine Stimme zu vernehmen,
War mir erst’ und letzte Lust.«
Sie stand hinter ihm und schaute über seine Schulter in die Noten.
Zuweilen beugte sie sich ein wenig vor, und dann fühlte er an der Schläfe den
Hauch ihrer Lippen. Ihre Stimme war viel schöner, als seine Erinnerung sie
bewahrt hatte.
Im Nebenzimmer wurde etwas zu laut gesprochen. Ohne den Gesang zu
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik