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Weg dazu gewesen. An der gleichen Stelle, wo sie jetzt saß und ihm mit
klaren, aber wie fremden Augen ins Gesicht schaute, hatte sie die
Korrekturbogen seiner letzten medizinisch-philosophischen Arbeit vor sich
liegen gehabt, die den Titel trug: Vorläufige Bemerkungen zu einer
Physiognomik der Krankheiten. Und dann, als sich sein Übergang zur Politik
vollzog, zu der Zeit, da er in Wählerversammlungen Reden hielt, sich durch
ernste geschichtliche und nationalökonomische Studien für den neuen Beruf
vorbereitete, hatte sie sich seiner Vielseitigkeit und seiner Energie herzlich
gefreut. All das war nun vorüber. Allmählich schien sie gerade seine Fehler,
die ihm ja selbst durchaus nicht verborgen waren, insbesondere seine
Neigung, sich an den eigenen Worten zu berauschen, mit schärferen Blick zu
sehen als früher, und dadurch begann er wieder seine Sicherheit ihr gegenüber
mehr und mehr zu verlieren. Er war nicht ganz er selbst, wenn er zu ihr oder
in ihrer Gegenwart sprach. Auch heute war er nicht mit sich zufrieden. Mit
einem Ärger, der ihm selbst kleinlich vorkam, ward er sich bewußt, daß er
seine Begegnung im Büfett mit Jalaudek nicht wirksam genug vorgetragen
hatte und daß er seinen Ekel vor der Politik viel glaubhafter hätte darstellen
müssen. »Sie haben ja wahrscheinlich recht, Fräulein Anna,« sagte er, »wenn
Sie darüber lächeln, daß ich wegen dieses läppischen Abenteuers mein
Mandat niedergelegt habe. Ein parlamentarisches Leben ohne Komödienspiel
ist ja überhaupt nicht möglich. Ich hätte es bedenken und selber mitagieren,
dem Kerl womöglich zutrinken sollen, der mich öffentlich beschimpft hat.
Das wäre bequem, österreichisch – und vielleicht sogar das Richtigste
gewesen.« Er fühlte sich wieder im Zuge und sprach lebhaft weiter: »Es gibt
am Ende doch nur zwei Methoden, mittels deren in der Politik praktisch etwas
zu leisten ist; entweder durch eine großartige Frivolität, die das ganze
öffentliche Leben als ein amüsantes Spiel betrachtet, die in Wahrheit für
nichts begeistert, gegen nichts entrüstet ist, und der die Menschen, um deren
Glück oder Elend es sich doch im letzten Sinn handeln sollte, vollkommen
gleichgültig bleiben. So weit bin ich nicht, und ich weiß nicht, ob ich jemals
dahin gelangen werde. Ehrlich gesagt, ich hab es mir schon manchmal
gewünscht. Die andre Methode aber ist: bereit sein, in jedem Augenblick für
das, was man das Rechte hält, seine ganze Existenz, sein Leben im wahrsten
Sinne des Wortes –«
Berthold schwieg plötzlich. Sein Vater, der alte Doktor Stauber, war
eingetreten und wurde herzlich begrüßt. Er reichte Georg, der ihm von Frau
Rosner vorgestellt wurde, die Hand und sah ihn so freundlich an, daß sich
Georg sofort zu ihm hingezogen fühlte. Er sah offenbar jünger aus, als er war.
Sein langer, rötlichblonder Bart war nur von einzelnen grauen Fäden
durchzogen, und das schlicht gekämmte lange Haar zog in dichten Strähnen
zu dem breiten Nacken hin. Die Stirn, die von auffallender Höhe war, gab der
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik