Page - 45 - in Der Weg ins Freie
Image of the Page - 45 -
Text of the Page - 45 -
es keinen beträchtlichen Umweg. Er lächelte in der Erinnerung an
Fensterpromenaden früherer Jahre. Nicht fern von hier lag die Straße, wo er
manche Nacht zu einem Fenster aufgeblickt hatte, hinter dessen Vorhängen
sich Marianne zu zeigen pflegte, wenn ihr Gatte eingeschlafen war. Diese
Frau, die stets mit Gefahren spielte, an deren Ernst sie selbst nicht glaubte,
war Georg nie wirklich wert gewesen… Eine andre Erinnerung, ferner als
diese, war um viel holdseliger. In Florenz, als siebzehnjähriger Jüngling war
er manche Nacht vor dem Fenster eines schönen Mädchens auf und
abgegangen, des ersten weiblichen Wesens, das sich ihm, dem Unberührten,
als Jungfrau gegeben hatte. Und er dachte der Stunde, an der er die Geliebte
am Arm des Bräutigams zum Altar hatte schreiten sehen, wo der Priester die
Ehe einsegnen sollte, des Blicks, den sie unter dem weißen Schleier zu
ewigem Abschied ihm herüber gesandt hatte… Er war am Ziele. Nur an den
beiden Enden der kurzen Gasse brannten noch die Laternen, so daß er dem
Hause gegenüber völlig im Dunkel stand. Das Fenster von Annas Zimmer
war offen, und wie am Nachmittag bewegten die zusammengesteckten
Tüllvorhänge sich leise im Wind. Dahinter war es ganz dunkel. Eine sanfte
Zärtlichkeit regte sich in Georg. Von allen Wesen, die jemals ihre Neigung
ihm nicht verhehlt hatten, schien Anna ihm die beste und reinste. Auch war
sie wohl die erste, die seinen künstlerischen Bestrebungen Teilnahme
entgegenbrachte, eine echtere jedenfalls als Marianne, der die Tränen über die
Wangen gerollt waren, was immer er ihr auf dem Klavier vorspielen mochte;
eine tiefre auch als Else Ehrenberg, die sich ja doch nur das stolze Bewußtsein
sichern wollte, als erste sein Talent erkannt zu haben. Und wenn irgend eine,
so war Anna dazu geschaffen, seinem Hang zur Verspieltheit und zur
Nachlässigkeit entgegenzuwirken, ihn zu zielbewußter und erwerbbringender
Tätigkeit anzuhalten. Schon im letzten Winter hatte er daran gedacht, sich um
eine Stelle an einer deutschen Opernbühne als Kapellmeister oder
Korrepetitor umzusehen; bei Ehrenbergs hatte er flüchtig von seinen
Absichten gesprochen, die nicht sehr ernst genommen wurden, und Frau
Ehrenberg, mütterlich und weltklug, hatte ihm geraten doch lieber eine
Tournee als Komponist und Dirigent durch die Vereinigten Staaten zu
unternehmen, worauf Else vorlaut hinzugefügt hatte: »Und eine
amerikanische Erbin wär auch nicht zu verachten.« Während er sich dieses
Gesprächs erinnerte, behagte er sich sehr in der Idee, ein bißchen in der Welt
herumzuabenteuern, wünschte sich, fremde Städte und Menschen kennen zu
lernen, irgendwo im Weiten allerlei Liebe und Ruhm zu gewinnen, und fand
am Ende, daß seine Existenz im ganzen viel zu ruhig und einförmig
dahinflösse.
Längst, ohne innerlich von Anna Abschied genommen zu haben, hatte er
die Paulanergasse verlassen und bald war er zu Hause. Als er ins
45
back to the
book Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik