Page - 62 - in Der Weg ins Freie
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»Ich denke eben, wie leicht es sich hätte fügen können, daß Fräulein Else
zwei Monate im Gefängnis hätte schmachten müssen, und daß Fräulein
Therese in einem eleganten Salon als Tochter des Hauses Cercle hielte.«
»Leicht fügen… ?«
»Herr Ehrenberg hat Glück gehabt, Herr Golowski Pech… das ist vielleicht
der ganze Unterschied.«
»Na hören Sie, Nürnberger«, sagte Heinrich, »Sie werden das Individuelle
doch nicht vollkommen aus der Welt leugnen wollen… Else und Therese sind
doch ziemlich verschiedene Naturen.«
»Das denke ich auch«, bemerkte Frau Ehrenberg.
Nürnberger zuckte die Achseln. »Beide sind junge Mädchen, recht begabt,
recht hübsch… alles übrige ist wie bei den meisten jungen Damen – und wohl
bei den meisten Menschen, mehr oder weniger angeflogen.«
Heinrich schüttelte lebhaft den Kopf. »Nein, nein«, sagte er, »so einfach ist
das Leben doch nicht.«
»Es ist darum nicht einfacher, lieber Heinrich.«
Frau Ehrenbergs Blick war auf die Tür gerichtet und leuchtete. Felician war
eben eingetreten. Mit nachtwandlerischer Sicherheit ging er auf die Hausfrau
zu und küßte ihr die Hand. »Ich habe eben das Vergnügen gehabt, Herrn
Ehrenberg auf der Stiege zu begegnen… Er fährt nach Corfu, wie er mir sagt.
Dort muß es jetzt wunderschön sein.«
»Sie kennen Corfu?«
»Ja, gnädige Frau, eine Kindheitserinnerung.« Er begrüßte Nürnberger und
Bermann, und sie redeten alle über den Süden, nach dem Bermann sich sehnte
und an den Nürnberger nicht glaubte.
Georg drückte seinem Bruder zur Begrüßung und zugleich zum Abschied die
Hand. Wie er, unauffällig durch die offene Tür des Speisezimmers
verschwindend, sich noch einmal umsah, bemerkte er Marianne, die in der
entferntesten Ecke des Salons saß und ihm mit dem Lorgnon spöttisch
nachblickte. Es war immer die rätselhafte Gabe dieser Frau gewesen,
plötzlich da zu sein, ohne daß man wußte, wo sie herkam. Noch auf der Stiege
trat ihm eine verschleierte Dame in den Weg. »Eilen Sie doch nicht so, sie
kann schon noch einen Moment warten«, sagte sie. »Man darf die Frauen
überhaupt nicht so verwöhnen… Ob Sie’s auch so eilig hätten, wenn Sie zu
einem Rendezvous mit mir gingen… ? Aber davon wollen ja Sie nichts
wissen. Wahrscheinlich, weil Sie Angst haben, daß Sie mein Mann
niederschießt, wenn er aus Stockholm zurückkommt, das heißt, heute ist er
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik