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wohl schon in Kopenhagen. Aber er setzt vollkommenes Vertrauen in mich.
Mit Recht übrigens. Denn ich kann Ihnen schwören, weiter als bis zu einem
Kuß auf die Hand… nein, um nicht zu lügen, auf diesen Hals, hat es noch
niemand gebracht. Sie glauben gewiß auch, daß ich mit dem Stanzides ein
Verhältnis gehabt habe? Nein, der wäre nichts für mich! Schöne Männer sind
mir überhaupt ein Graus. Auch an Ihrem Bruder Felician kann ich nichts
finden… «
Es war nicht abzusehen, wann die verschleierte Dame zu reden aufhören
würde, denn es war Frau Oberberger. Bei andern Frauen hätte das gleiche
Benehmen ein gewisses Entgegenkommen bedeutet, nicht so bei ihr, der man,
so zweifelhaft ihre ganze Art erscheinen mochte, noch nie einen Liebhaber
hatte nachsagen können. Sie lebte in einer sonderbaren, aber anscheinend
glücklichen, kinderlosen Ehe. Ihr schöner und glänzender Gemahl, Geologe
von Beruf, hatte in früherer Zeit Entdeckungsreisen unternommen, wobei er,
wie Hofrat Wilt behauptete, nicht so sehr auf die Unerforschtheit der
betreffenden Landstriche als auf gute Fahrgelegenheiten und einwandfreie
Küche Wert gelegt haben sollte. Seit einigen Jahren aber begab er sich nur
mehr auf Reisen, um Vorträge zu halten und Frauen zu erobern. Wenn er
wieder daheim war, lebte er mit seiner Gattin in bester Kameradschaft. Schon
manchmal, aber immer flüchtig, hatte Georg die Möglichkeit eines
Verhältnisses mit Frau Oberberger erwogen. Er war sogar einer von jenen, die
ihren Hals geküßt hatten, woran sie sich wahrscheinlich selbst nicht mehr
erinnerte. Und als sie jetzt den Schleier zurückschlug, ließ Georg wieder
einmal den Reiz dieses nicht mehr ganz jugendlichen, aber anmutig-bewegten
Gesichts mit Vergnügen auf sich wirken. Er wollte ihr ins Wort fallen, sie aber
sprach weiter: »Wissen Sie, daß Sie sehr blaß sind? Sie müssen ein nettes
Leben führen. Was ist das übrigens für ein Weib, durch das Sie mir diesmal
entrissen werden?«
Hofrat Wilt, unhörbar wie meistens, stand plötzlich neben ihnen. Beiläufig,
überlegen und galant warf er hin: »Küß die Hand schöne Frau, grüß Sie Gott
Baron… « und wollte weiter.
Frau Oberberger aber fand es angemessen, ihm vorerst noch mitzuteilen,
daß Baron Georg sich soeben zu einer Orgie begebe, wie das so seine Art sei,
– dann folgte sie dem Hofrat in den zweiten Stock, auf die Gefahr hin, wie sie
bemerkte, daß man ihn, wenn er zugleich mit ihr bei Ehrenbergs erschiene,
für ihren fünfundneunzigsten Liebhaber halten würde.
Es war sieben Uhr, als Georg sich endlich in einen Wagen setzen konnte,
um nach Mariahilf zu fahren. Er fühlte sich von den zwei Stunden bei
Ehrenbergs geradezu abgespannt, und mehr noch als sonst freute er sich auf
das Zusammensein mit Anna, das ihm bevorstand. Seit jenem Vormittag in
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik