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der Miniaturenausstellung hatten sie einander beinahe täglich gesehen; in
Gärten, in Bildergalerien, bei ihr zu Hause. Meist unterhielten sie sich über
die kleinen Begebenheiten ihres Daseins, oder plauderten von Büchern und
Musik. Von vergangenen Zeiten sprachen sie nicht oft; und wenn es geschah,
ohne Mißtrauen und Zweifel. Denn noch waren die Abenteuer, aus denen
Georg kam, für Anna nicht vom beängstigenden Dufte des Geheimnisvollen
umwoben; und daß sie selbst schon manche schwärmerische Neigung
empfunden hatte, vernahm Georg aus ihren scherzenden Andeutungen heiter,
unbesorgt, ja ohne weiter zu fragen. In einem menschenleeren Saal der
Liechtensteingalerie hatte er sie vor acht Tagen zum erstenmal geküßt, und
von diesem Augenblick an nannte Anna ihn du, als wäre eine fremdere
Anrede ihr von nun an wie etwas Lügenhaftes erschienen.
Der Wagen hielt an einer Straßenecke. Georg stieg aus, zündete sich eine
Zigarette an und ging auf und ab, dem Hause gegenüber, aus dem Anna
kommen mußte.
Nach wenigen Minuten schon trat sie aus dem Tor. Er eilte über die Straße
ihr entgegen, und beglückt küßte er ihr die Hand. Wie gewöhnlich, weil sie
auf ihren Fahrten meist zu lesen pflegte, hatte sie ein Buch mit sich, in einem
Einband von gepreßtem Leder.
»Es ist ja kühl, Anna«, sagte Georg, nahm ihr das Buch aus der Hand und
half ihr in die Jacke, die sie über dem Arm getragen hatte.
»Ich habe mich nämlich ein bißchen verspätet«, sagte sie »und war sehr
ungeduldig, dich zu sehen. Ja«, setzte sie lächelnd hinzu, »man hat auch seine
Temperamentsausbrüche. Was sagst du denn zu meinem neuen Kostüm«,
fragte sie, indem sie weiterspazierten.
»Steht dir sehr gut.«
»In meiner Lektion hat man gefunden, ich sähe aus wie eine Hofdame.«
»Wer hat das gefunden?«
»Frau Bittner selbst, und ihre beiden Töchter, die ich unterrichte.«
»Ich würde lieber sagen: wie eine Erzherzogin.«
Anna nickte befriedigt.
»Also jetzt erzähl mir Anna, was du seit gestern alles erlebt hast.«
Ernsthaft begann sie. »Um zwölf, nachdem ich mich am Haustor von dir
getrennt, Mittagessen im Familienkreis. Nachmittag ein wenig geruht und an
dich gedacht. Von vier bis halb sieben Schülerinnen bei mir, dann gelesen,
»grüner Heinrich« und Abendblatt. Zu faul, um noch auf die Straße zu gehen,
im Hause herumgetrenderlt. Nachtmahl. Die übliche häusliche Szene.«
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik