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gemacht hatte.
Anna lächelte vergnügt dazu.
Später, während sie wieder in einer stilleren Straße Arm in Arm spazierten,
begann Georg von neuem: »Jetzt weiß ich aber noch immer nicht, wer die
große Liebe gewesen ist.«
Anna schwieg und sah vor sich hin.
»Nun, Anna! Du hast mir ja versprochen, nicht wahr?«
Ohne ihn anzusehen, erwiderte sie: »Wenn du nur ahntest, wie sonderbar
mir heute die Geschichte vorkommt.«
»Warum sonderbar?«
»Weil der, nach dem du fragst, eigentlich ein alter Mann gewesen ist.«
»Fünfunddreißig«, scherzte Georg, »nicht wahr?«
Sie schüttelte ernsthaft den Kopf. »Er war achtundfünfzig oder sechzig.«
»Und du?« fragte Georg langsam.
»Im Sommer waren es zwei Jahre. Einundzwanzig war ich damals.«
Georg blieb plötzlich stehen. »Nun weiß ich es, dein Gesangslehrer war es.
Nicht wahr?«
Anna antwortete nicht.
»Also wirklich«, sagte Georg, ohne sich eigentlich zu wundern, denn es
war ihm nicht unbekannt, daß sich in den berühmten Meister, trotz seiner
grauen Haare, alle Schülerinnen verliebten.
»Und den«, fragte Georg, »hast du am meisten geliebt von allen Menschen,
die dir begegnet sind?«
»Seltsam, nicht wahr? Aber es ist doch so… «
»Hat er es gewußt?«
»Ich glaub schon.«
Sie waren auf einen ausgeweiteten Platz gekommen mit einer kleinen
Gartenanlage, die nur spärlich beleuchtet war. Hinten erhob sich rötlich
schimmernd eine Kirche. Dorthin, als zög es sie an einen stillern Ort,
wandelten sie unter dunkeln, leise schwankenden Ästen.
»Und was ist denn eigentlich zwischen euch vorgefallen, wenn man fragen
darf?«
Anna schwieg, und Georg hielt in diesem Augenblick alles für möglich.
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik