Page - 70 - in Der Weg ins Freie
Image of the Page - 70 -
Text of the Page - 70 -
weiß nicht, ob du das so ganz verstehen kannst. Es war, als ob er den ganzen
Rest seiner Jugend verschwendet hätte in jenem Augenblick.«
»Ich verstehe es ganz gut«, sagte Georg. Er glaubte ihr und liebte sie mehr
als früher. Sie traten in die Kirche. Es war fast dunkel in dem weiten Raum.
Nur vor einem Seitenaltar brannten trübe Kerzen, und drüben, hinter einer
kleinen Heiligenstatue, schimmerte ein armes Licht. Ein breiter Strom von
Weihrauchduft floß zwischen Wölbung und Steinfliesen hin. Der Meßner ging
umher und klapperte leise mit den Schlüsseln. In den Bänken rückwärts,
regungslos, dämmerten Gestalten. Langsam schritt Georg mit Anna vorwärts
und fühlte sich wie ein junger Gatte auf Reisen, der mit seiner jungen Frau
eine Kirche besichtigt. Er sagte es Anna. Sie nickte nur. »Es wär aber noch
viel schöner«, flüsterte Georg, während sie eng aneinander geschmiegt vor
der Kanzel standen, »wenn man wirklich miteinander irgendwo in der Fremde
wäre… «
Sie sah ihn an, wie beglückt und doch wie fragend; und er erschrak über
seine eigenen Worte. Wenn Anna sie als ernsthafte Aufforderung oder gar als
eine Art von Werbung aufgefaßt hätte? War er nicht verpflichtet sie
aufzuklären, daß sie nicht so gemeint waren?… Ein Gespräch fiel ihm ein,
von neulich, als sie an einem windig-regnerischen Tag unter dem Schirm
eingehängt über die Linie hinaus gegen Schönbrunn spaziert waren. Er hatte
ihr den Vorschlag gemacht, mit ihm in die Stadt zu fahren und in irgend
einem abgeschiedenen Gasthauszimmer mit ihm zu nachtmahlen; – sie mit
jener Frostigkeit, in der ihr ganzes Wesen manchmal erstarrte, hatte darauf
erwidert: »für solche Sachen bin ich nicht.« Er hatte nicht weiter in sie
gedrungen. Doch eine Viertelstunde später, allerdings im Lauf einer
Unterhaltung über Georgs Lebensführung, aber vieldeutig lächelnd hatte sie
die Worte zu ihm gesprochen: »Du hast keine Initiative, Georg.« Und in
diesem Augenblick war ihm plötzlich gewesen, als täten sich Untiefen ihrer
Seele auf, niemals vermutete und gefährliche, vor denen es gut war, sich in
acht zu nehmen. Daran mußte er jetzt wieder denken. Was mochte in ihr denn
vorgehen?… Was wünschte sie und worauf war sie gefaßt?… Und was
wünschte, was ahnte er selbst? Das Leben war ja so unberechenbar. War es
nicht sehr gut möglich, daß er wirklich einmal mir ihr draußen in der Welt
herumreisen, eine Zeit des Glücks mit ihr durchleben… und endlich von ihr
scheiden würde, wie er von mancher andern geschieden war? – Doch wenn er
an das Ende dachte, das jedenfalls kommen mußte, ob es nun der Tod bringen
mochte oder das Leben selbst, so fühlte er es wie ein gelindes Weh im
Herzen… Noch immer schwieg sie. Fand sie wieder, daß es ihm an Initiative
fehlte?… Oder dachte sie vielleicht: Es wird mir ja doch gelingen, ich werde
seine Frau sein… ?
70
back to the
book Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik