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zurück. Alleinsein, Fremde, Bewegung, war es nicht ein dreifaches Glück, das
er genossen? »Was für ein Gefühl von innerer Freiheit mich damals
durchfloß«, sagte er, »kann ich Ihnen kaum beschreiben. Kennen Sie diese
Stimmungen, in denen alle Erinnerungen, ferne und nahe, sozusagen ihre
Lebensschwere verlieren; alle Menschen, mit denen man sonst irgendwie
verbunden ist, durch Schmerzen, Sorgen, Zärtlichkeit, einen nur mehr wie
Schatten umschweben, oder richtiger gesagt, wie Gestalten, die man selbst
erfunden hat? Und die erfundenen Gestalten, die stellen sich natürlich auch
ein und sind mindestens geradso lebendig wie die Menschen, an die man sich
eben als an wirkliche erinnert. Da entwickeln sich dann die allerseltsamsten
Beziehungen zwischen den wirklichen und den erfundenen Figuren. Ich
könnte Ihnen von einer Unterhaltung berichten, die zwischen meinem
verstorbenen Großonkel, der Rabbiner war, und dem Herzog Heliodor
stattgefunden hat, wissen Sie, mit dem, der sich in meinem Opernstoff
herumtreibt, – eine Unterhaltung so amüsant, so tiefsinnig, wie im
allgemeinen weder das Leben noch Operntexte zu sein pflegen… Ja,
wundervoll sind solche Reisen! Und so geht es durch Städte, die man niemals
gesehen hat und vielleicht nie wieder sehen wird, an lauter unbekannten
Gesichtern vorüber, die gleich wieder für alle Ewigkeit verschwinden… und
dann saust man weiter auf heller Straße zwischen Strom und Weingeländen.
Wahrhaft reinigend sind solche Stimmungen. Schade, daß sie einem so selten
geschenkt sind!«
Georg empfand stets eine gewisse Verlegenheit, wenn Heinrich pathetisch
wurde. »Jetzt könnte man vielleicht wieder fahren«, sagte er, und sie
schwangen sich auf die Räder. Ein schmaler, ziemlich holpriger Seitenweg
zwischen Wiese und Wald führte sie bald zu einem unerbaulich kahlen,
zweistöckigen Haus, das sich durch ein mürrisch braunes Schild als Wirtshaus
zu erkennen gab. Auf der Wiese, die durch die Straße vom Haus geschieden
war, stand eine große Menge von Tischen, manche mit einstmals weiß
gewesenen, andre mit geblümten Tüchern bedeckt. Hart an der Straße, an
einigen zusammengerückten Tischen, saßen zehn oder zwölf junge Leute,
Mitglieder eines Radfahrklubs. Mehrere hatten ihre Röcke abgelegt, andre
trugen sie flott übergehängt; auf den himmelblauen, gelb eingefaßten
Sweaters prangten Embleme in erhabener roter und grüner Stickerei. Mächtig,
aber nicht sehr rein tönte ein Chorlied zum Himmel auf: »Der Gott, der Eisen
wachsen ließ, der wollte keine Knechte.«
Heinrich überflog die Gesellschaft mit einem raschen Blick, kniff die
Augen zusammen und sagte zu Georg, mit zusammengepreßten Zähnen und
heftig betont: »Ich weiß nicht, ob diese Jünglinge bieder, treu und mutig sind,
wofür sie sich jedenfalls halten; daß sie aber nach Wolle und Schweiß duften,
ist gewiß, und daher wäre ich dafür, daß wir in angemessener Entfernung von
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik