Page - 86 - in Der Weg ins Freie
Image of the Page - 86 -
Text of the Page - 86 -
bei Menschen, denen die Politik nicht zugleich Beruf oder Geschäft ist?
Nehmen sie den geringsten Einfluß auf die Lebensführung, auf die Gestaltung
des Daseins? Sowohl Sie, Leo, als ich, wir beide werden nie etwas anderes
tun, nie etwas anderes tun können, als eben das leisten, was uns innerhalb
unseres Wesens und unserer Fähigkeiten zu leisten gegeben ist. Sie werden in
Ihrem Leben nicht nach Palästina auswandern, selbst wenn der Judenstaat
gegründet und Ihnen sofort eine Ministerpräsidenten- oder wenigstens
Hofpianistenstelle angetragen würde –.«
»O das können Sie nicht wissen«, unterbrach ihn Leo.
»Ich weiß es ganz bestimmt«, sagte Heinrich. »Dafür gesteh ich Ihnen ja
auch zu, daß ich mich trotz meiner vollkommenen Gleichgültigkeit gegen
jegliche Religionsform nie und nimmer werde taufen lassen, selbst wenn es
möglich wäre – was ja heute weniger der Fall ist als je – durch solch einen
Trug antisemitischer Beschränktheit und Schurkerei für alle Zeit zu
entrinnen.«
»Hm«, sagte Leo, »aber wenn die Scheiterhaufen wieder angezündet
werden… ?«
»Für diesen Fall«, entgegnete Heinrich, »dazu verpflichte ich mich hiermit
feierlich, werde ich mich vollkommen nach Ihnen richten.«
»O«, wandte Georg ein, »diese Zeiten kommen doch nicht mehr wieder.«
Die andern mußten lachen, daß Georg sie durch diese Worte, wie Heinrich
bemerkte, im Namen der gesamten Christenheit über ihre Zukunft zu
beruhigen so liebenswürdig wäre.
Sie hatten indessen die Wiese durchquert. Georg und Heinrich schoben ihre
Räder auf dem holprigen Karrenweg vorwärts, Leo ihnen zur Seite, in
wehendem Mantel, ging auf dem Rasen hin. Alle schwiegen eine ganze
Weile, wie ermüdet. Wo der schlechte Weg in die breite Straße mündete, blieb
Leo stehen und sagte: »Hier werden wir uns leider trennen müssen.« Er
streckte Georg die Hand entgegen und lächelte. »Sie müssen sich heute nicht
übel gelangweilt haben«, sagte er.
Georg errötete. »Na hören Sie, Sie halten mich doch für etwas… «
Leo hielt Georgs Hand fest. »Ich halte Sie für einen sehr klugen und auch
für einen sehr guten Menschen. Glauben Sie mir das?«
Georg schwieg.
»Ich möchte wissen«, fuhr Leo fort, »ob Sie mir das glauben, Georg, es
liegt mir daran.« Sein Ton bekam etwas wahrhaft Herzliches.
»Ja natürlich glaub ich es Ihnen«, erwiderte Georg, noch immer etwas
86
back to the
book Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik