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ungeduldig.
»Das freut mich«, sagte Leo, »denn Sie sind mir wirklich sympathisch,
Georg.« Er sah ihm tief in die Augen, dann reichte er ihm und Heinrich zum
Abschied nochmals die Hand und wandte sich zum Gehen.
Georg aber hatte plötzlich die Empfindung, daß dieser junge Mann, der da
mit wehendem Mantel, den Kopf leicht gesenkt, in der Mitte der breiten
Straße nach abwärts schritt, gar nicht nach einem »zu Hause« wanderte,
sondern irgendwohin in eine Fremde, in die man ihm nicht folgen könnte.
Diese Empfindung war ihm selbst umso unbegreiflicher, als er mit Leo in der
letzten Zeit nicht nur manche Stunde am Kaffeehaustisch im Gespräch
verbracht, sondern auch durch Anna über ihn, seine Familie, seine
Lebensumstände allerlei Aufklärendes erfahren hatte. Er wußte, daß jener
Sommer am See, der nun mit der jugendlichen Schwärmerei Annas sechs
Jahre weit zurücklag, für die Familie Golowski den letzten sorgenlosen
bedeutet hatte, und daß das Geschäft des Alten im Winter darauf völlig
zugrunde gegangen war. Es sollte nun, nach Annas Erzählung, ganz
merkwürdig gewesen sein, wie alle Mitglieder der Familie sich so leicht in die
geänderten Verhältnisse fügten, als wären sie seit langem auf diesen
Umschwung gefaßt gewesen. Aus der behaglichen Wohnung im
Rathausviertel übersiedelte man in eine trübselige Gasse in der Nähe des
Augartens. Herr Golowski übernahm Vermittlungsgeschäfte aller Art, Frau
Golowski verfertigte Handarbeiten zum Verkauf. Therese gab Unterricht in
französischer und englischer Sprache und setzte anfangs den Besuch der
Schauspielschule fort. Ein junger Violinspieler aus verarmter, russischer
Adelsfamilie war es, der ihr Interesse für politische Fragen erweckte. Bald
hatte sie der Kunst abgeschworen, für die sie übrigens stets mehr Neigung als
Talent gezeigt hatte, und binnen kurzem stand sie als Rednerin und Agitatorin
mitten in der sozialdemokratischen Bewegung. Leo, ohne mit ihren
Anschauungen übereinzustimmen, freute sich ihres frischen und verwegenen
Wesens. Manchmal besuchte er sogar Versammlungen mit ihr; da er sich aber
nicht gern von großen Worten imponieren ließ, weder von Versprechungen,
die niemals einzulösen waren, noch von Drohungen, die ins Leere gingen, so
machte es ihm Spaß, ihr meist schon auf dem Heimweg mit unwiderleglicher
Schärfe die Widersprüche in ihren und der Parteigenossen Reden
nachzuweisen. Insbesondere aber versuchte er ihr immer wieder klar zu
machen, daß sie nicht, auf Tage und Wochen oft, ihrer großen Aufgabe so
vollkommen vergessen könnte, wenn ihr Mitgefühl mit den Armen und
Elenden wirklich ein so tiefes wäre, wie sie sich einbildete. Indes, auch Leos
Leben ging nach keinem sichern Ziel. Er hörte Vorlesungen an der Technik,
gab Klavierlektionen, plante zuweilen sogar eine Virtuosenlaufbahn und übte
dann wochenlang fünf bis sechs Stunden täglich. Aber es war noch immer
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik