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»Was bist du denn plötzlich so rücksichtsvoll?« Und wie strafend fügte sie
hinzu: »Es wär ihm wahrscheinlich manches nicht recht.«
Georg las den Brief rasch für sich durch. In trockener, zuweilen etwas
humoristisch gefärbter Art berichtete Berthold vom Fortgang seiner Arbeiten
im Pasteurschen Institut, von Spaziergängen, Ausflügen und Theaterbesuchen
und ließ es auch an Bemerkungen allgemeinem Charakters nicht fehlen; doch
enthielt der Brief auf seinen acht Seiten keinerlei Anspielung auf
Vergangenheit oder Zukunft. Georg fragte beiläufig: »Wie lang bleibt er denn
noch in Paris?«
»Wie du siehst, schreibt er noch kein Wort vom Zurückkommen.«
»Deine Freundin Therese erwähnte neulich, daß seine Parteigenossen ihn
gerne wieder hier haben möchten.«
»Ah, ist sie wieder im Kaffeehaus gewesen?«
»Ja. Vor zwei oder drei Tagen hab ich sie dort gesprochen. Ich amüsier
mich wirklich sehr über sie.«
»So?«
»Anfangs ist sie nämlich immer sehr hochmütig, auch mit mir. Offenbar,
weil ich auch mein Leben so mit Kunst und ähnlichen Dummheiten vertrödle,
während es doch so viele wichtigere Dinge auf der Welt zu tun gibt. Aber
wenn sie ein bissel wärmer wird, dann kommt’s heraus, daß sie sich für alle
möglichen Dummheiten geradeso interessiert, wie wir gewöhnlichen
Menschen.«
»Sie wird leicht warm«, sagte Anna unbeweglich.
Georg ging auf und ab und sprach weiter. »Köstlich war sie ja neulich beim
Fechtturnier im Musikvereinssaal. Wer war übrigens der Herr, mit dem sie
oben auf der Galerie gesessen ist?«
Anna zuckte die Achseln. »Ich hatte nicht den Vorzug, dem Turnier
beizuwohnen. Und übrigens kenn ich die Begleiter Theresiens nicht alle.«
»Ich nehme an«, sagte Georg, »es war ein Genosse, in jeder Beziehung.
Sehr düster und ziemlich schlecht angezogen war er jedenfalls. Wie Therese
nach Felicians Sieg applaudiert hat, hat er sich vor Eifersucht geradezu
zusammengerollt.«
»Was hat dir Therese eigentlich von Doktor Berthold erzählt?« fragte
Anna.
»O«, scherzte Georg, »man interessiert sich ja noch sehr lebhaft, wie es
scheint.«
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik