Page - 100 - in Der Weg ins Freie
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»Ja«, sagte Georg langsam, beinahe etwas befangen, »wenn man so in die
Zukunft blicken könnte.«
Sie seufzte ganz leise, und er drängte sich näher an sie, fast mitleidig. »Sei
ruhig, mein Schatz, sei ruhig«, sagte er, »ich bin ja da… und ich werde immer
da sein.« Er glaubte zu fühlen, wie sie dachte: Kann er nichts Besseres
sagen?… nichts Stärkeres? nichts, das alle Angst, – und das sie für immer von
mir nähme? Und unaufrichtig, wie mit dem Gedanken sich in eine Gefahr zu
begeben, fragte er sie: »Woran denkst du?« Und noch einmal, als sie
beharrlich schwieg: »Anna, woran denkst du denn?«
»An etwas sehr Sonderbares«, erwiderte sie leise.
»Woran?«
»Daß das Haus schon steht, wo es zur Welt kommen wird, – und wir haben
keine Ahnung wo… daran hab ich denken müssen.«
»Daran«, sagte er seltsam berührt. Und mit neu aufflammender Zärtlichkeit
sie an sein Herz pressend: »Ich werde euch nie verlassen, euch beide… «
Als es wieder licht im Zimmer wurde, waren sie sehr vergnügt, pflückten
von den Ästen des kleinen Weihnachtsbaumes die letzten vergessenen
Zuckersachen, freuten sich auf das Wiedersehen unter lauter gleichgültigen
Menschen, das ihnen bevorstand, wie auf ein heiteres Abenteuer, lachten und
redeten lustigen Unsinn.
Sobald Anna fortgegangen war, versperrte Georg die Notenblätter in der
Tischlade, löschte die Lampe aus und öffnete ein Fenster. Leicht und dünn fiel
der Schnee. Über die Stiege aus dem Dunkel kam ein alter Mann, und sein
mühseliges Atmen tönte durch die unbewegte Luft herauf. Grau ragte die
stumme Kirche gegenüber… Georg blieb eine Weile am Fenster stehen. Er
war in diesem Augenblick beinahe überzeugt, daß Anna sich in ihrer
Annahme täuschte. Wie eine Beruhigung fiel ihm jene Äußerung Leo
Golowskis ein, daß Anna bestimmt wäre im Bürgerlichen zu enden.
Wahrhaftig es konnte nicht in der »Linie ihres Schicksals« liegen, von einem
Liebhaber ein Kind zu bekommen. Und nicht in der Linie des seinen lag es,
Verpflichtungen ernster Art zu tragen, heute schon und vielleicht für alle Zeit
an ein weibliches Wesen festgebunden zu sein; Vater zu werden in so jungen
Jahren. Vater!… Schwer, beinahe düster sank das Wort in seine Seele.
Um acht Uhr abends trat er in den Ehrenbergschen Salon. Walzerklänge
tönten ihm entgegen. Am Klavier saß der alte Eißler, dem der lange graue
Vollbart fast bis auf die Tasten herabsank. Georg, der, um nicht zu stören, am
Eingang stehenblieb, wurde von allen Seiten durch Blicke begrüßt. Der alte
Eißler spielte mit weichem Anschlag und kräftigem Rhythmus seine
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik