Page - 107 - in Der Weg ins Freie
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wenig ärgerlich über Anna, so sehr er sich dagegen wehrte. Im übrigen schien
wirklich niemand den Vorfall bemerkt zu haben, als Frau Ehrenberg und Else.
Ach, was lag am Ende daran… Wenn sie’s auch alle wußten… Wen ging es
an… Ja, wer kümmerte sich nur darum… Nun hören sie alle Else zu, dachte
er weiter, und empfinden die Schönheit dieses Liedes. Sogar Frau Oberberger,
die gar nicht musikalisch ist, vergißt auf einige Minuten, daß sie ein Weib ist,
und hat ein stilles, geschlechtsloses Gesicht. Auch Heinrich hört gebannt zu,
denkt in diesem Moment vielleicht nicht an seine Werke, nicht an das Los der
Juden, nicht an die ferne Geliebte, und nicht einmal an die nahe, die kleine
Blondine, der zuliebe er in der letzten Zeit geradezu elegant geworden ist.
Wahrhaftig, der Frack sitzt ihm nicht übel, und die Krawatte ist keine von den
fertig gekauften, wie er sie sonst trägt, sondern sorgsam geknüpft… Wer steht
denn so nah hinter mir, dachte Georg weiter, daß ich den Atem über dem Haar
spüre?… Sissy vielleicht… ? Wenn morgen früh die Welt unterginge, Sissy
wäre es, die ich mir für heute Nacht erwählte. Ja das ist sicher. Ah, da kommt
Anna mit Frau Ehrenberg… Es scheint, ich bin der einzige, der es merkt,
obwohl ich doch zugleich auf mein Spiel und auf Elses Gesang aufpassen
muß. Ich grüße sie mit den Augen… Ja, ich grüße dich, Mutter meines
Kindes… Wie sonderbar ist das Leben…
Das Lied war zu Ende. Man applaudierte, verlangte nach mehr. Georg
begleitete Else zu einigen anderen Liedern, von Schumann, von Brahms, zum
Schluß auf allgemeinen Wunsch zu zwei eigenen, die ihm persönlich zuwider
geworden waren, seit irgendwer behauptet hatte, sie erinnerten an
Mendelssohn. Während er begleitete, glaubte er jeden Zusammenhang mit
Else zu verlieren und gab sich durch sein Spiel Mühe, sie wiederzugewinnen.
Er spielte mit übertriebener Empfindung, er warb geradezu um sie und fühlte,
daß es vergebens war. Zum erstenmal in seinem Leben war er unglücklich
verliebt in sie. Der Beifall nach Georgs Liedern war stark.
»Das war Ihre beste Zeit«, sagte Else leise zu ihm, während sie die Noten
weglegte. »So vor zwei, drei Jahren.«
Die andern sagten ihm Freundliches, ohne Epochen in seiner künstlerischen
Entwicklung zu unterscheiden.
Nürnberger erklärte, durch die Lieder Georgs aufs angenehmste enttäuscht
worden zu sein. »Ich will Ihnen nämlich nicht verhehlen«, bemerkte er, »daß
ich sie mir nach den Ansichten, die ich manchmal von Ihnen vertreten höre,
lieber Baron, beträchtlich unverständlicher vorgestellt hätte.«
»Wirklich charmant«, sagte Wilt. »Alles so melodiös, und einfach, ohne
Affektion und Schwulst.«
Er ist es, dachte Georg grimmig, der mich einen Dilettanten geheißen hat.
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik