Page - 110 - in Der Weg ins Freie
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»Dann hätten Sie wenigstens das Recht, sich über den Antisemitismus zu
beklagen«, sagte Nürnberger. »Denn wer spürt in Österreich etwas davon, als
die Hausierer… leider Gottes nur die, könnte man sagen.«
»Und einige Leute mit Ehrgefühl«, entgegnete Ehrenberg.
»Siebenundzwanzig… einunddreißig… achtunddreißig… nu, wer hat die
Partie gewonnen?«
Willy hatte sich wieder in den Salon begeben, Georg saß rauchend auf der
Lehne eines Fauteuils, sah plötzlich den Blick des alten Eißler auf sich
gerichtet, in einer sonderbar wohlwollenden Weise, und fühlte sich an irgend
etwas erinnert, ohne zu wissen woran.
»Neulich«, sagte der alte Herr, »hab ich Ihren Bruder Felician flüchtig
gesprochen, bei Schönsteins. Es ist frappant, wie er Ihrem seligen Papa
ähnlich sieht. Besonders, wenn man Ihren Papa als ganz jungen Menschen
gekannt hat, wie ich.«
Jetzt wußte Georg mit einemmal, woran der Blick des alten Eißler ihn
erinnerte: mit dem gleichen, väterlichen Ausdruck hatten des alten Doktor
Stauber Augen bei Rosners auf ihm geruht. Diese alten Juden! dachte er
spöttisch, aber in einem entlegenen Winkel seiner Seele war er ein wenig
gerührt. Es fiel ihm ein, daß sein Vater mit Eißler, vor dessen
Kunstverständnis er großen Respekt gehabt hatte, manchmal des Morgens im
Prater spazierengegangen war.
Der alte Eißler sprach weiter: »Sie Georg, geraten wohl mehr Ihrer Mutter
nach, denk ich mir.«
»Es behaupten’s manche. Selbst kann man das ja schwer beurteilen.«
»Ihre Mutter soll eine so schöne Stimme gehabt haben.«
»Ja, in ihrer frühen Jugend. Ich selbst habe sie ja nie wirklich singen
gehört. Zuweilen hat sie’s wohl versucht. Drei oder vier Jahre vor ihrem Tod,
da hat ihr ein Arzt in Meran sogar den Rat gegeben, ihre Singstimme zu üben.
Eine Lungengymnastik sollte es sein. – Aber es hat leider nicht viel Erfolg
gehabt.«
Der alte Eißler nickte und sah vor sich hin. »Daran werden Sie sich
wahrscheinlich nicht mehr erinnern können, daß damals meine arme Frau mit
Ihrer verstorbenen Mutter zugleich in Meran gewesen ist.«
Georg suchte in seinem Gedächtnis. Es war ihm entfallen.
»Einmal«, sagte der alte Eißler, »bin ich mit Ihrem Vater im selben Kupee
hinuntergefahren. In der Nacht, wir haben beide nicht schlafen können, hat er
mir sehr viel von euch zweien erzählt. Von Ihnen und Felician mein ich.«
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik