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»Was schwebt ihnen auf den Lippen?«
Heinrich lachte. »Sie kennen doch die Geschichte von dem polnischen
Juden, der mit einem Unbekannten im Eisenbahnkupee sitzt, sehr manierlich
– bis er durch irgendeine Bemerkung des andern darauf kommt, daß der auch
ein Jude ist, worauf er sofort mit einem erlösten ›ä soi‹ die Beine auf den Sitz
gegenüber ausstreckt.«
»Sehr gut«, sagte Georg.
»Mehr als das«, ergänzte Heinrich streng. »Tief. Tief wie so viele jüdische
Anekdoten. Sie schließt einen Blick auf in die Tragikomödie des heutigen
Judentums. Sie drückt die ewige Wahrheit aus, daß ein Jude vor dem andern
nie wirklichen Respekt hat. Nie. So wenig als Gefangene in Feindesland
voreinander wirklichen Respekt haben, besonders hoffnungslose. Neid, Haß,
ja manchmal Bewunderung, am Ende sogar Liebe kann zwischen ihnen
existieren, Respekt niemals. Denn alle Gefühlsbeziehungen spielen sich in
einer Atmosphäre von Intimität ab, sozusagen, in der der Respekt ersticken
muß.«
»Wissen Sie, was ich finde?« bemerkte Georg, »daß Sie ein ärgerer
Antisemit sind, als die meisten Christen, die ich kenne.«
»Glauben Sie?« Er lachte: »Ein richtiger wohl nicht. Ein richtiger ist ja nur
der, der sich im Grunde über die guten Eigenschaften der Juden ärgert und
alles dazu tut, um ihre schlechten weiter zu entwickeln. Aber in gewissem
Sinne haben Sie schon recht. Ich gestatte mir ja schließlich auch Antiarier zu
sein. Jede Rasse als solche ist natürlich widerwärtig. Nur der einzelne vermag
es zuweilen, durch persönliche Vorzüge mit den Widerlichkeiten seiner Rasse
zu versöhnen. Aber daß ich den Fehlern der Juden gegenüber besonders
empfindlich bin, das will ich gar nicht leugnen. Wahrscheinlich liegt es nur
daran, daß ich, wir alle, auch wir Juden mein ich, zu dieser Empfindlichkeit
systematisch herangezogen worden sind. Von Jugend auf werden wir darauf
hingehetzt gerade jüdische Eigenschaften als besonders lächerlich oder
widerwärtig zu empfinden, was hinsichtlich der ebenso lächerlichen und
widerwärtigen Eigenheiten der andern eben nicht der Fall ist. Ich will es gar
nicht verhehlen, – wenn sich ein Jude in meiner Gegenwart ungezogen oder
lächerlich benimmt, befällt mich manchmal ein so peinliches Gefühl, daß ich
vergehen möchte, in die Erde sinken. Es ist wie eine Art von Schamgefühl,
das vielleicht irgendwie mit dem Schamgefühl eines Bruders verwandt ist, vor
dem sich seine Schwester entkleidet. Vielleicht ist das Ganze auch nur
Egoismus. Es erbittert einen eben, daß man immer wieder für die Fehler von
andern mit verantwortlich gemacht wird, daß man für jedes Verbrechen, für
jede Geschmacklosigkeit, für jede Unvorsichtigkeit, die sich irgendein Jude
auf der Welt zuschulden kommen läßt, mitzubüßen hat. Da wird man dann
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik