Page - 128 - in Der Weg ins Freie
Image of the Page - 128 -
Text of the Page - 128 -
selber schuldig bin.« Er schluckte.
Soweit er zurückdachte, gab es keinen Moment in seinem Leben, in dem er
sich selbst so unsympathisch gewesen war. Und nun, wie in Gesprächen von
vollkommener Aussichtslosigkeit nicht anders möglich, wiederholte jeder
einigemale dasselbe, bis Herr Rosner sich endlich entschuldigte gestört zu
haben und sich von Georg verabschiedete, der ihn bis zur Stiege
hinausbegleitete. Georg behielt es einige Tage lang nach diesem Besuche wie
einen unangenehmen Nachgeschmack in der Seele. Jetzt fehlt nur noch der
Bruder, dachte er geärgert und stellte sich unwillkürlich eine
Auseinandersetzung vor, in deren Verlauf sich der junge Mann als Rächer der
Hausehre aufzuspielen suchte und Georg ihn mit außerordentlich treffenden
Worten in seine Schranken verwies. Immerhin fühlte sich Georg, nachdem die
Unterredung mit den Eltern Annas überstanden war, wie befreit. Und über
den Stunden, die er mit der Geliebten allein in dem friedlichen Zimmer, der
Kirche gegenüber verbrachte, lag ein eigenes Gefühl von Behaglichkeit und
Sicherheit. Zuweilen schien es ihnen beiden, als stünde die Zeit stille. Wohl
brachte Georg zu den Zusammenkünften Reisehandbücher, den
Burckhardtschen Cicerone, sogar Fahrpläne mit, und stellte gemeinschaftlich
mit Anna allerlei Routen zusammen, aber eigentlich dachte er nicht ernstlich
daran, daß all das einmal wahr werden sollte. Was jedoch das Haus
anbelangte, in dem das Kind geboren werden sollte, so waren sie beide von
der Notwendigkeit durchdrungen, daß es gefunden und gemietet sein mußte,
ehe sie Wien verließen. Einmal sah Anna in der Zeitung, die sie sorgfältig
daraufhin durchzulesen pflegte, ein Forsthaus angekündigt, hart am Walde,
unweit einer Bahnstation, die von Wien in eineinhalb Stunden zu erreichen
war. Eines Morgens fuhren sie beide an den bezeichneten Ort – und nahmen
die Erinnerung an einen verschneiten, einsamen Holzbau mit Hirschgeweihen
über der Tür, an einen alten, betrunkenen Förster, an eine junge, blonde
Magd, an eine windesrasche Schlittenfahrt über eine besonnte Winterstraße,
an ein unbegreiflich lustiges Mittagessen in einem riesigen Gasthofzimmer
und an ein schlecht beleuchtetes, überheiztes Kupee mit nach Hause. Dies war
das einzige Mal, daß Georg mit Anna zusammen das Haus suchen ging, das
doch schon irgendwo in der Welt stehen und seiner Bestimmung warten
mußte… Sonst fuhr er meist allein mit der Bahn oder mit der Tramway in die
nahegelegenen Sommerfrischen Umschau halten.
Einmal, an einem mitten in den Winter verirrten Frühlingstag, spazierte
Georg durch einen der kleinen, ganz nahe der Stadt gelegenen Orte, die er
besonders liebte, wo dorfmäßige Baulichkeiten, bescheidene Landhäuser und
elegante Villen sich aneinanderreihten; hatte so ziemlich vergessen, wie ihm
das manchmal geschah, warum er hergefahren war, und dachte eben mit
Ergriffenheit daran, daß auf den gleichen Wegen wie er vor manchen Jahren
128
back to the
book Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik