Page - 136 - in Der Weg ins Freie
Image of the Page - 136 -
Text of the Page - 136 -
Ruck gekommen, den gespürt zu haben ein moderner Mensch eigentlich nicht
eingestehen dürfte. Aber, um wieder ganz ernst zu reden, überlegen Sie nur
einmal, wie sich Ihr seliger Herr Vater zu der Sache gestellt hätte, der wieder
das Annerl nicht gekannt hat. Er war doch sicher einer der klügsten und
vorurteilslosesten Menschen, den man sich denken kann… Und trotzdem
zweifeln Sie gewiß nicht daran, daß es auch bei ihm nicht ganz ohne Ruck
abgegangen wäre.«
Georg streckte dem Arzt unwillkürlich die Hand entgegen. Das
Unerwartete dieser plötzlichen Mahnung an den geliebten Toten ließ eine so
heftige Sehnsucht in ihm aufsteigen, daß er sie nur zu lindern vermochte,
indem er von dem Entschwundenen zu reden begann. Auch der Arzt wußte
noch von mancher Begegnung mit dem verblichnen Baron zu erzählen, meist
zufälligen, flüchtigen auf der Straße, bei Sitzungen der Akademie der
Wissenschaften, in Konzerten. Wieder war einer jener Augenblicke, in dem
Georg sich dem Dahingeschiedenen gegenüber seltsam schuldvoll erschien
und sich im Innern zuschwor, seines Andenkens würdig zu werden.
»Grüßen Sie das Annerl von mir«, sagte der Arzt beim Abschied zu ihm,
»aber von dem ›Ruck‹ erzählen Sie ihr lieber nichts. Sie ist ein sehr
feinfühliges Geschöpf, das wissen Sie ja, und jetzt kommt es vor allem darauf
an, ihr jede unangenehme Aufregung zu ersparen. Bedenken Sie nur, lieber
Baron, es handelt sich jetzt nur um das eine, daß ein gesundes Kind auf die
Welt kommt, alles übrige… na, grüßen Sie sie schön von mir, hoffentlich
sehen wir uns alle gesund im Sommer wieder.«
Georg entfernte sich mit dem erhöhten Bewußtsein seiner Verpflichtungen
gegenüber dem Wesen, das sich ihm gegeben, und jenem andern, das in
wenigen Monaten zum Dasein erwachen sollte. Er dachte zuerst daran, ein
Testament zu machen und es bei einem Notar zu hinterlegen. Bei näherer
Überlegung aber fand er es richtiger, sich seinem Bruder zu eröffnen, der ihm
unter allen Menschen doch auch innerlich am nächsten stand. In der
eigentümlichen Befangenheit aber, die dem doch so innigen Verhältnis
zwischen den Brüdern eigen war, ließ er Tag um Tag verstreichen, bis endlich
Felicians Abreise nach Afrika zu den Jagden ganz nahe bevorstand. In der
Nacht vorher, auf dem Weg aus dem Klub nach Hause, teilte Georg seinem
Bruder mit, daß er schon in der nächsten Zeit eine lange Reise anzutreten
gedenke.
»So? Auf wie lange willst du denn fort?« fragte Felician.
Georg hörte im Ton dieser Worte eine gewisse Besorgnis mitklingen und
fühlte sich veranlaßt hinzuzusetzen: »Es wird wohl auf Jahre hinaus die letzte
größere Reise sein, die ich unternehme. Im Herbst befinde ich mich ja
hoffentlich in einer festen Stellung.«
136
back to the
book Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik