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vorzutragen, es gelang ihm nicht recht, und Leo stellte sich mit den Noten
zum Fenster hin und las sie aufmerksam. »Eigentlich weiß man noch gar
nichts«, sagte er. »Manches ist wie von einem Dilettanten mit sehr viel
Geschmack und anderes wie von einem Künstler ohne rechte Zucht. In den
Liedern spürt man noch am ehesten… aber was… Talent?… ich weiß nicht…
daß Sie eine vornehme Natur sind, spürt man jedenfalls, eine musikalisch
vornehme Natur.«
»Na, das wäre nicht viel.«
»Es ist sogar ziemlich wenig. Aber da Sie noch so wenig gearbeitet haben,
beweist das auch nichts gegen Sie. Wenig gearbeitet und wenig durchfühlt.«
»Sie glauben… « Georg zwang sich zu einem spöttischen Lächeln.
»O, erlebt wahrscheinlich sehr viel, aber gefühlt… wissen Sie, was ich
meine, Georg?«
»Ja, ich kann mirs schon denken. Aber Sie irren sich entschieden. Ich finde
sogar eher, daß ich eine gewisse Neigung zur Sentimentalität habe, die ich
bekämpfen muß.«
»Ja, das ist es eben. Sentimentalität ist nämlich etwas, was in einem
direkten Gegensatz zum Gefühl steht, etwas, womit man sich über seine
Gefühlslosigkeit, seine innere Kälte beruhigt. Sentimentalität ist Gefühl, das
man sozusagen unter dem Einkaufspreis erstanden hat. Ich hasse
Sentimentalität.«
»Hm, und doch glaube ich, daß Sie selbst nicht ganz frei davon sind.«
»Ich bin Jude, bei uns ist es eine Nationalkrankheit. Die Anständigen
arbeiten dran, daß Grimm oder Zorn daraus werde. Bei den Deutschen ist es
schlechte Gewohnheit, innere Nachlässigkeit sozusagen.«
»Also bei Ihnen zu entschuldigen, bei uns nicht?«
»Auch Krankheiten sind nicht zu entschuldigen, wenn man im vollen
Bewußtsein seiner Anlage versäumt hat, sich dagegen zu wehren. Aber wir
fangen an, aphoristisch zu werden, befinden uns also auf dem Wege zu Halb-
oder Viertelswahrheiten. Kehren wir zu Ihrem Quintett zurück. Das Thema
des Adagio ist mir das liebste daran.«
Georg nickte. »Das hab ich einmal in Palermo gehört.«
»Wie«, fragte Leo, »sollte es eine sizilianische Melodie sein?«
»Nein, aus den Wellen des Meeres ist es mir entgegengerauscht, wie ich
eines Morgens allein am Strand spazieren gegangen bin. Das Alleinsein tut
meiner Produktion überhaupt gut. Auch fremde Gegenden. Ich verspreche mir
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik