Page - 150 - in Der Weg ins Freie
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Anna stieg ins Kupee. Georg blieb noch eine Weile draußen stehen und
amüsierte sich über die Reisenden, die eilig Aufgeregten, die vornehm
Ruhigen und die, die die Ruhigen spielten, und über die verschiedenen
Abarten der Begleiter: die Wehmütigen, die Heitern, die Gleichgültigen.
Anna beugte sich aus dem Fenster. Georg plauderte mit ihr, tat so, als
dächte er gar nicht daran abzureisen, stieg im letzten Moment ein. Der Zug
fuhr ab. Auf dem Bahnsteig standen Leute – unbegreifliche Leute, die in
Wien zurückblieben, und denen wieder all die andern unbegreiflich schienen,
die nun ernstlich davonfuhren. Ein paar Taschentücher wehten, der
Stationschef stand wichtig da und sandte dem Zug einen strengen Blick nach,
ein Träger, in blau weiß gestreifter Leinenbluse hielt eine gelbe Tasche hoch
und blickte gierig in jedes Fenster. Merkwürdig, dachte Georg beiläufig, es
gibt Leute, die davonfahren und ihre gelben Taschen in Wien zurücklassen.
Alles verschwand, Tücher, Tasche, Stationschef, Bahnhofsgebäude, das hell
erleuchtete Signalhaus, die Gloriette, die flimmernden Lichter der Stadt, die
kleinen, kahlen Gärten am Damm; und der Zug sauste weiter durch die Nacht.
Georg wandte sich vom Fenster ab. Anna saß in der Ecke, hatte Hut und
Schleier neben sich liegen; kleine, sanfte Tränen rannen ihr über die Wangen.
»Aber«, sagte Georg, umschlang sie, küßte sie auf die Augen, auf den Mund.
»Aber Anna«, wiederholte er noch zärtlicher und küßte sie wieder. »Was
weinst du denn? Es wird ja so schön sein.«
»Du hasts leicht«, sagte sie, und über ihr lächelndes Antlitz flossen die
Tränen weiter. –
Es wurde schön. Zuerst hielten sie sich in München auf. In den hohen Sälen
der Pinakothek spazierten sie umher, standen entzückt vor alten dunkelnden
Bildern, wanderten in der Glyptothek zwischen marmornen Göttern, Königen
und Helden; und wenn Anna plötzlich ermüdet auf einem Diwan sich
niederließ, fühlte sie Georgs zärtlichen Blick über ihrem Scheitel. Sie fuhren
durch den englischen Garten, in breiten Alleen, unter noch entlaubten
Bäumen, eng aneinander geschmiegt, jung und glücklich, und glaubten gern,
daß die Menschen sie für Hochzeitsreisende hielten. Und sie hatten ihre
Plätze nebeneinander in der Oper, bei Figaro, bei den Meistersingern, bei
Tristan; und es war ihnen, als webte sich aus den geliebten Klängen ein
tönend durchsichtiger Schleier um sie allein, der sie von allen andern
Zuhörern abschied. Und sie saßen, von niemandem gekannt, an hübsch
gedeckten Gasthaustischen, aßen, tranken und plauderten wohlgelaunt. Und
durch Gassen, die den wunderbaren Hauch der Fremde hatten, wandelten sie
heim, wo im gemeinsamen Zimmer die milde Nacht ihrer wartete,
schlummerten beruhigt Wange an Wange ein, und wenn sie erwachten,
lächelte vor dem Fenster ein freundlicher Tag, mit dem sie schalten durften
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik