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seinem Sprößling eine Ohrfeige herunter. Eine Ohrfeige! Oskar dem
Reserveleutnant! Mittag, im Zentrum der Stadt! Daß die Geschichte noch am
selben Abend in der ganzen Stadt bekannt wurde, ist also weiter nicht
merkwürdig. Heute steht sie auch schon in einigen Zeitungen zu lesen. Die
jüdischen schweigen sie zwar tot, von ein paar Klatschblättern abgesehen, die
antisemitischen legen sich natürlich mächtig hinein. Das beste leistet der
›Christliche Volksbote‹, der verlangt, daß beide Ehrenbergs wegen
Religionsstörung oder gar Gotteslästerung vor die Geschworenen kommen.
Oskar soll vorläufig abgereist sein, unbekannt wohin.«
»Nette Familie«, sagte Anna mit Überzeugung.
Wider Willen mußte Georg lachen. »Du an der Geschichte ist Else wirklich
vollkommen unschuldig.«
Die Glocke tönte zum zweitenmal. Sie begaben sich in den Speisesaal und
nahmen an ihrem kleinen Tisch am Fenster Platz, wo immer für sie allein
gedeckt war. An der langen Tafel, in der Mitte des Saals, saßen kaum ein
Dutzend Gäste, meist Engländer und Franzosen, auch ein nicht mehr ganz
junger Mann, der erst seit zwei Tagen da war und den Georg für einen
österreichischen Offizier in Zivil hielt. Im übrigen kümmerte er sich um ihn
so wenig als um die andern. Georg hatte den Brief Heinrichs zu sich gesteckt.
Es fiel ihm ein, daß er ihn noch nicht zu Ende gelesen. Beim schwarzen
Kaffee nahm er ihn wieder vor und überflog den Schluß.
»Was schreibt er denn noch?« fragte Anna.
»Nichts Besonderes«, antwortete Georg. »Von Leuten, die dich nicht
besonders interessieren dürften. In seine Kaffeehausgesellschaft scheint er
wieder hinein geraten zu sein, mehr als ihm lieb ist, und mehr als er zugesteht,
offenbar.«
»Er wird schon hineinpassen«, sagte Anna beiläufig. Georg lächelte
nachsichtig. »Es ist immerhin ein komisches Volk.«
»Was ist denn mit ihnen?« fragte Anna.
Georg hatte den Brief neben der Tasse liegen, blickte hinein. »Der kleine
Winternitz… weißt du… der im Winter einmal mir und Heinrich seine
Gedichte vorgelesen hat… geht nach Berlin als Dramaturg eines neu
gegründeten Theaters. Und Gleißner, der uns einmal im Museum so
angeglotzt hat… «
»Ja der ekelhafte Kerl mit dem Monokel… «
»Also der erklärt, daß er das Schreiben überhaupt aufgibt, um sich
ausschließlich dem Sport zu widmen… «
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik