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einander zufällig bei einer leidenden Bekannten begegnet. Nur den Eltern
zulieb hielt sich Anna in der Villa völlig zurückgezogen. Denn sie selbst, zu
völliger Unbefangenheit gereift, fühlte sich nicht anders, als wäre sie Georgs
angetraute Gattin, und als jener kürzlich, der eintönigen Abende müde, um
Erlaubnis gebeten, gelegentlich Heinrich mit herauszubringen, hatte sie sich
zu Georgs angenehmer Überraschung ohne weiteres damit einverstanden
erklärt.
Heinrich war der einzige von Georgs nähern Bekannten, der sich in diesen
drückenden Julitagen noch in der Stadt aufhielt. Felician, der sich nach des
Bruders Heimkehr, wie in neuerwachter Jugendfreundschaft, ihm
angeschlossen hatte, weilte nach bestandener Diplomatenprüfung mit Ralph
Skelton an der Nordsee. Else Ehrenberg, die Georg bald nach seiner
Rückkunft im Sanatorium am Krankenbett ihres Bruders einmal gesprochen
hatte, war mit ihrer Mutter längst wieder im Auhof am See. Auch Oskar, den
sein unglücklicher Selbstmordversuch das rechte Auge gekostet, aber, wie es
hieß, die Leutnantscharge gerettet hatte, war von Wien abgereist, die
schwarze Binde über dem erblindeten Auge. Demeter Stanzides, Willy Eißler,
Guido Schönstein, Breitner, alle waren sie fort, und sogar Nürnberger, der so
feierlich erklärt hatte, auch dieses Jahr die Stadt nicht verlassen zu wollen,
war mit einemmal verschwunden.
Ihn hatte Georg nach seiner Rückkehr vor allen andern besucht, um ihm
Blumen vom Grab der Schwester aus Cadenabbia zu überbringen. Auf der
Reise hatte er endlich den Roman Nürnbergers gelesen, der in einer nun
halbvergangenen Zeit spielte, derselben, wie es Georg schien, von der der alte
Doktor Stauber einmal zu ihm gesprochen hatte. Über jener lügendumpfen
Welt, in der erwachsene Menschen für reif, altgewordene für erfahren und
Leute, die sich gegen kein geschriebenes Gesetz vergingen, als rechtlich; in
der Freiheitsliebe, Humanität und Patriotismus schlechtweg als Tugenden
galten, auch wenn sie dem faulen Boden der Gedankenlosigkeit oder der
Feigheit entsproßt waren, hatte Nürnberger grimmige Leuchten angezündet;
und zum Helden seines Buches hatte er einen tätigen und braven Mann
gewählt, der, von den wohlfeilen Phrasen der Epoche emporgetragen, auf der
Höhe Überblick und Einsicht gewann und in der Erkenntnis seines
schwindelnden Aufstiegs von Grauen erfaßt, in das Leere hinabstürzte, aus
dem er gekommen war. Daß einer, der dies starke und rings widerhallende
Werk geschaffen, später nur mehr wie in lässig höhnischen Randbemerkungen
zum Gang der Zeit sich hatte vernehmen lassen, wunderte Georg sehr, und
erst ein Wort Heinrichs: daß wohl dem Zorne, nicht aber dem Ekel
Fruchtbarkeit beschieden sei, ließ ihn verstehen, warum Nürnbergers Werk
für immer abgeschlossen war. – Die einsame dunkelblaue
Spätnachmittagsstunde auf dem Friedhof von Cadenabbia hatte sich Georg so
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik