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seltsam tief eingeprägt, als wäre ihm das Wesen, an dessen Grab er gestanden,
bekannt, ja wert gewesen. Es hatte ihn ergriffen, daß die goldenen Buchstaben
auf dem grauen Stein matt geworden und die Beete im Rasen von Unkraut
durchwuchert waren, und nachdem er ein paar gelbblaue Stiefmütterchen für
den Freund gepflückt hatte, war er mit bewegtem Herzen geschieden. Jenseits
des Friedhoftors warf er einen Blick durch das offene Fenster der
Totenkammer und sah im Dämmer, zwischen hohen, brennenden Kerzen, von
schwarzem Tuch bis über die Lippen bedeckt, eine Frauensperson aufgebahrt,
über deren schmalem Wachsgesicht die Lichter der Kerzen und des Tags
ineinanderrannen.
Nürnberger war von der teilnehmenden Aufmerksamkeit Georgs nicht
ungerührt geblieben, und sie sprachen an diesem Tage vertrauter miteinander
als je zuvor.
Das Haus, in dem Nürnberger lebte, stand in einer engen, düstern Gasse,
die aus der innern Stadt treppenweise gegen die Donau zu führte; war uralt,
schmal und hoch. Die Wohnung Nürnbergers befand sich im obersten, fünften
Stockwerk, wohin man über eine vielfach gewundene Treppe gelangte. In
dem niedrigen, aber geräumigen Zimmer, in das Georg aus einem dunkeln
Vorraum trat, standen alte, aber wohlgehaltene Möbel, und aus dem Alkoven
in der Tiefe, vor dem ein mattgrüner Vorhang herabgelassen war, drang ein
Duft von Kampfer und Lavendel. Jugendbildnisse von Nürnbergers Eltern
hingen an der Wand und bräunliche Stiche von Landschaften nach
holländischen Meistern. Auf der Kommode in holzgeschnitzten Rahmen
standen allerlei alte Photographien, und aus einer Schreibtischlade, unter
vergilbten Briefen suchte Nürnberger ein Bildnis der verstorbenen Schwester
hervor, das sie als achtzehnjähriges Mädchen zeigte, in einer wie historisch
anmutenden Kindertracht, einen Ball in der Hand, vor einem Zaune stehend,
hinter dem eine Felsenlandschaft sich türmte. All diese Unbekannten,
Entfernte und Verstorbene, stellte Nürnberger dem Freunde heute im Bilde
vor und sprach von ihnen in einem Tone, der den Zeitraum zwischen einst
und jetzt zu verbreitern und vertiefen schien.
Georgs Blick schweifte manchmal hinaus über die enge Gasse zu dem
grauen Mauerwerk uralter Häuser. Er sah schmale, verstaubte Scheiben mit
allerlei Hausrat dahinter; auf einem Fensterbrett standen Blumentöpfe mit
ärmlichen Pflanzen, zwischen zwei Häusern in einer Rinne lagen
Flaschenscherben, zerbrochene Tongefäße, Papierfetzen, vermodertes
Pflanzenwerk. Ein verwittertes Rohr lief zwischen all dem Zeug hin und
verlor sich hinter einem Rauchfang. Andere Rauchfänge zeigten sich links
und rechts, die Rückseite eines gelblichen Steingiebels war sichtbar, zum
blaßblauen Himmel ragten Türme auf, und unerwartet nah, in lichtem Grau,
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik