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Wagen gesetzt und gewissermaßen als Gefangener auf die Bahn transportiert
worden. Wie Heinrich behauptete, hatte Nürnberger einige Bekannte dieser
harmlosen Art, die das Bedürfnis empfanden, sich von dem berühmten
Spötter in den wohlschmeckenden Trank des Daseins einige Tropfen Bosheit
träufeln zu lassen, so wie Nürnberger seinerseits sich in ihrer bequemen
Gesellschaft von den anstrengenden Bekannten aus Literaten- und
Psychologenkreisen zu erholen liebte.
Das Wiedersehen mit Heinrich hatte für Georg eine Enttäuschung bedeutet.
Der Dichter, nach den ersten Begrüßungsworten, hatte wie gewöhnlich nur
von sich geredet, und zwar in den Tönen tiefster Selbstverachtung. Er war
endlich darauf gekommen, daß er eigentlich kein Talent besäße, sondern nur
Verstand, den allerdings in enormem Maße. Was er aber an sich am heftigsten
verdammte, das waren die Disharmonien seines Wesens, unter denen, wie er
wohl wußte, nicht nur er zu leiden hatte, sondern alle, die in seine Nähe
gerieten. Er war herzlos und sentimental, leichtfertig und schwerblütig,
empfindlich und rücksichtslos, unverträglich und doch auf Menschen
angewiesen… zuzeiten wenigstens. Ein Subjekt mit solchen Eigenschaften
konnte nun seine Daseinsberechtigung nur durch eine ungeheure Leistung
erweisen, und wenn das Meisterwerk, zu dem er verpflichtet war, nicht bald,
sehr bald in die Erscheinung träte, so war er als anständiger Mensch
verpflichtet sich totzuschießen. Aber er war kein anständiger Mensch… daran
lag es eben. Georg dachte: Natürlich wirst du dich nicht totschießen,
hauptsächlich, weil du zu feig dazu bist. Er sprach das natürlich nicht aus, war
vielmehr sehr liebenswürdig, redete von Stimmungen, denen schließlich jeder
Künstler unterworfen sei, und erkundigte sich freundlich nach den äußern
Umständen in Heinrichs Leben. Da zeigte sich bald, daß es mit ihm gar nicht
so schlimm bestellt war. Er führte sogar, wie es Georg scheinen wollte, ein
sorgenloseres Leben als je zuvor. Durch eine kleine Erbschaft war die
Existenz von Mutter und Schwester für die nächsten Jahre gesichert; trotz
aller Feindseligkeiten, die gegen ihn am Werke waren, wuchs der Ruf seines
Namens von Tag zu Tag; die klägliche Geschichte mit der Schauspielerin
schien endgültig vorbei, und eine ganz neue, erwünscht leichte Beziehung zu
einer jungen Dame brachte sogar einige Heiterkeit in sein Dasein. Auch die
Arbeit ging gut vonstatten. Der erste Akt des Operntextes war so gut wie
fertig und für die politische Komödie vieles aufgezeichnet. Er hatte die
Absicht, im nächsten Jahre Parlamentssitzungen zu besuchen,
Versammlungen mitzumachen, spielte mit dem eingestandenermaßen
kindisch-phantastischen Plan, sich als sozialdemokratischer Genosse
aufzuspielen, bei den Führer, Anschluß zu suchen und sich, wenn es anging,
sogar als tätiges Mitglied in irgendeiner Organisation aufnehmen zu lassen,
nur um im Getriebe einer Partei vollkommen Bescheid zu wissen. Ah, wenn
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik