Page - 192 - in Der Weg ins Freie
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»Nicht viel.«
»Es wäre hübsch, wenn Sie alles, was vom Text fertig ist, heute mit
hinausbrächten und uns vorläsen.« Er stand am Pianino und schlug ein paar
Akkorde an.
»Was ist das?« fragte Heinrich.
»Ein Thema«, erwiderte Georg, »das mir für den zweiten Akt eingefallen
ist. Es soll den Moment begleiten, in dem der merkwürdige Fremde auf dem
Schiff erscheint.«
Heinrich schloß das Fenster, Georg setzte sich nieder und begann
weiterzuspielen. Da klopfte es an die Tür, und unwillkürlich rief Heinrich
»herein«.
Eine junge Dame trat ein, in lichtem Tuchrock mit roter Seidenbluse, ein
weißes Samtband mit einem kleinen Goldkreuz um den Hals. Ein
Florentinerhut, rosengeschmückt, beschattete breitkrämpig das kleine, blasse
Gesicht, aus dem zwei große, schwarze Augen blickten.
»Guten Tag«, sagte die fremde Dame mit einer dunkeln Stimme, die
zugleich trotzig und verlegen klang. »Verzeihen Sie, Herr Bermann, ich wußte
nicht, daß Sie Besuch haben.« Und sie sah Georg, der sie gleich erkannt hatte,
neugierig an.
Heinrich war blaß und hatte Falten auf der Stirn. »Ich habe allerdings nicht
vermutet… «, begann er, dann stellte er vor und sagte zu der Dame: »Wollen
Sie nicht Platz nehmen?«
»Danke«, erwiderte sie unwirsch und blieb stehen. »Ich komme vielleicht
später wieder.«
»O bitte«, fiel Georg ein. »Ich war eben daran, mich zu verabschieden.« Er
sah, wie der Blick der Schauspielerin im Zimmer umherirrte, und fühlte ein
seltsames Mitleid mit ihr, wie man es manchmal im Traum mit Toten fühlt,
die nicht wissen, daß sie gestorben sind. Dann sah er noch den Blick
Heinrichs auf diesem blassen, kleinen Gesicht mit unbegreiflicher Härte
ruhen und ging. Er erinnerte sich jetzt sehr deutlich, wie er sie auf der Bühne
gesehen hatte, mit dem rotblonden Haar, das in die Stirn fiel, und den irrenden
Augen. So sehen Wesen nicht aus, dachte er, die dazu bestimmt sind,
nur einem zu gehören. Und das sollte Heinrich nie gefühlt haben, der sich auf
seine Menschenkenntnis so viel zugute tat? Was wollte er nun eigentlich von
ihr? Eitelkeit war es, die in seiner Seele brannte, nichts anderes als Eitelkeit.
Auf der Straße schritt Georg wie durch trockene Gluten. Die Häusermauern
warfen den eingetrunkenen Sommer in die Luft. Georg fuhr mit der
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik