Page - 198 - in Der Weg ins Freie
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»Warum sind Sie so hart?« fragte Georg und dachte an das Riesenkuvert
mit den grauen Siegeln und der albernen Aufschrift. »Sie habens eigentlich
nicht nötig. Es ist ja doch nur ein Zufall, daß sie nicht auch anonyme Briefe
bekommen hat, geradeso wie Sie, Heinrich. Und wer weiß, wenn Sie sie nicht
allein gelassen hätten, aus weiß Gott was für Gründen… «
Heinrich schüttelte den Kopf und sah Georg beinahe mitleidig an. »Meinen
Sie vielleicht, ich habe die Absicht zu strafen oder zu rächen? Oder glauben
Sie, ich gehöre zu den Tröpfen, die an der Welt irrewerden, weil ihnen etwas
passiert ist, wovon sie doch wissen, daß es schon Tausenden passiert ist vor
ihnen und Tausenden nach ihnen passieren wird? Meinen Sie, ich verachte die
»Ungetreue«, oder ich hasse sie? Fällt mir gar nicht ein. Womit ich nicht
sagen will, daß ich nicht zuweilen die Gebärde des Hasses und der
Verachtung habe, natürlich nur, um bessere Wirkungen zu erzielen ihr
gegenüber. Aber in Wahrheit versteh ich ja alles, was geschehen ist, viel zu
gut, als daß ich… « Er zuckte die Achseln.
»Nun, wenn Sie es verstehen
»Aber lieber Freund, das Verstehen hilft ja gar nichts. Das Verstehen ist ein
Sport wie ein anderer. Ein sehr vornehmer Sport und ein sehr kostspieliger.
Man kann seine ganze Seele darauf verschwenden und als ein armer Teufel
dastehen. Aber mit unsern Gefühlen hat das Verstehen nicht das allergeringste
zu tun – beinahe so wenig wie mit unsern Handlungen. Es schützt uns nicht
vor Leid, nicht vor Ekel, nicht vor Vernichtung. Es führt gar nirgends hin. Es
ist eine Sackgasse gewissermaßen. Das Verstehen bedeutet immer ein Ende.«
Auf einem Seitenpfad in mäßiger Steigung, schweigend und langsam, jeder
mit seinen eigenen Gedanken, so kamen sie aus der Waldung auf offenes
Wiesenland, das den Blick talwärts freigab. Sie blickten über die Stadt hin,
und weiter gegen die dunstatmende Ebene, durch die schimmernd der Fluß
rann; zu fernen Berglinien, vor denen dünner Rauch sich hinbreitete. Dann,
im Frieden der Abendsonne spazierten sie weiter zu Georgs Lieblingsbank am
Waldesrande. Die Sonne war fort. Georg sah jenseits des Tales, längs des
waldigen Hügels den Sommerhaidenweg ziehen, blaß und wie ausgekühlt.
Dann schaute er hinab, wußte, daß in dem Garten zu seinen Füßen ein
Birnbaum stand, unter dem er vor wenig Stunden mit einer sehr Geliebten
gesessen war, die sein Kind unter dem Herzen trug, und war bewegt. Für die
Frauen, die vielleicht anderswo seiner warteten, spürte er eine leise
Verachtung, doch war seine Sehnsucht nach ihnen darum nicht ausgelöscht.
Unten auf dem Pfad zwischen Gärten und Wiesen wandelten Sommergäste.
Ein junges Mädchen blickte herauf, flüsterte einer andern etwas zu. »Sie sind
wohl eine populäre Persönlichkeit hier in dem Ort«, bemerkte Heinrich mit
spöttisch verzogenen Mundwinkeln.
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik