Page - 205 - in Der Weg ins Freie
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bestimmt war, gerade in diesem Haus sein Dasein zu beschließen, in dem er
nun eben zu Gaste sei und sich so wohl fühle, wie schon lange nicht. Anna
bedankte sich, als wäre sie nicht nur hier in der Villa Hausfrau, sondern
innerhalb dieser ganzen, abendlich-stillen Welt. Aus dem Dunkel des Gartens
begann es milde zu leuchten. Von den Gräsern und Blumen kam
feuchtwarmer Duft. Die längliche Wiese, die zum Gitter hinlief, schwebte im
Mondenschein empor, und die weiße Bank unter dem Birnbaum schimmerte
her, wie von sehr ferne. Anna sagte zu Heinrich Freundliches über die Verse
aus dem Operntext, die Georg ihr neulich vorgelesen hatte.
»Ja richtig«, bemerkte Georg, die Beine behaglich gekreuzt und eine
Zigarre rauchend, »haben Sie uns etwas Neues mitgebracht?«
Heinrich schüttelte den Kopf. »Nein, nichts.«
»Wie schade«, sagte Anna und machte den Vorschlag, Heinrich sollte doch
den Gang der Handlung geordnet und ausführlich erzählen. Schon lange
wünschte sie sich das. Aus Georgs Berichten ließe sich kein klares Bild
gewinnen.
Sie sahen einander an. Die dunkle, süße Stunde stieg vor ihnen auf, da sie
Brust an Brust geruht in einem dunkeln Zimmer, vor dessen Fenstern hinter
wallendem Schneevorhang eine graue Kirche verdämmert und in das
Orgeltöne dumpf geklungen waren. Ja, nun wußten sie, wo das Haus stand, in
dem das Kind zur Welt kommen sollte. Auch ein anderes, dachte Georg, steht
vielleicht schon irgendwo, in dem das Kind, das heute noch nicht geboren ist,
sein Leben enden wird – als Mann – oder als Greis – oder – … ach, was für
Gedanken… fort, fort.
Heinrich erklärte sich bereit, den Wunsch Annas zu erfüllen, und stand auf.
»Es wird mir vielleicht selber nützlich sein«, sagte er wie zur Entschuldigung.
»Ich könnte über allerhand ins Reine kommen.«
»Aber geben Sie acht, daß Sie nicht plötzlich in Ihre politische
Tragikomödie geraten«, bemerkte Georg. Und zu Anna gewandt: »Er schreibt
nämlich ein Stück mit einem deutschnationalen Couleurstudenten als Helden,
der sich aus Verzweiflung über die Emanzipation der Juden mit Schwämmen
vergiftet.«
Heinrich winkte ab. »Ein Glas Bier weniger und Sie hätten nicht einmal
diesen Witz gemacht.«
»Neid«, erwiderte Georg. Er fühlte sich außerordentlich gut aufgelegt,
insbesondere, weil er nun fest entschlossen war, übermorgen abzureisen. Er
saß ganz nahe bei Anna, hielt ihre Hand in der seinen und hörte es wie von
Melodien späterer Tage im tiefsten Grunde seiner Seele rauschen.
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik