Page - 213 - in Der Weg ins Freie
Image of the Page - 213 -
Text of the Page - 213 -
Der Zug setzte sich eben wieder in Bewegung. Vor dem geschlossenen
Kupeefenster leuchteten zwei rote Laternen auf. Dann rann still und schwarz
die Nacht vorbei. Georg zog seinen Reiseplaid fester um sich und starrte auf
die grün verhängte Lampe an der Decke. Ach wie gut, dachte er, daß ich
allein im Kupee bin, so hab ich doch mindestens vier oder fünf Stunden fest
geschlafen. Was war das für ein seltsam wirrer Traum? Die weißen Möven
fielen ihm zuerst wieder ein. Ob die irgend etwas zu bedeuten hatten? Dann
dachte er an die alte Frau mit der Mantille, die eigentlich niemand anders war,
als Frau Oberberger. Sie würde sich nicht sonderlich geschmeichelt fühlen.
Aber hatte sie nicht wirklich ausgesehen wie eine ganz alte Dame, als er sie
vor ein paar Tagen an der Seite ihres leuchtenden Gemahls in der Loge des
kleinen, weiß-roten Kurtheaters erblickt hatte? Und auch Labinski war ihm im
Traum erschienen, als Steuermann, sonderbarerweise. Und auch die Mädchen
in blauen Kleidern, die vom Hotelgarten aus durchs Fenster ins
Klavierzimmer hineingeblickt hatten, sobald sie ihn spielen hörten. Aber was
war denn nur das Gespenstische in diesem Traum gewesen?
Nicht die blauen Mädchen, auch Labinski nicht und nicht der Prinz von
Guastalla, der zu Rad übers Verdeck gerast war. Nein, seine eigene Gestalt
war ihm so gespenstisch erschienen, wie sie zu beiden Seiten neben ihm in
den langgedehnten, schiefen Spiegeln, hundertmal vervielfacht
einhergeschlichen war.
Es begann ihn zu frösteln. Durch den Luftspalt oben drang kühle Nachtluft
ins Kupee herein. Die tiefschwarze Finsternis draußen wandelte sich
allmählich in schweres Grau, und plötzlich klangen Georg Worte im Ohr, die
er vor wenigen Stunden erst von einer dunkeln Frauenstimme gehört hatte,
klangen flüsternd und weh: Wie bald wirst du mich vergessen haben… Er
wollte die Worte nicht hören. Er wollte, sie wären schon wahr geworden, und
wie verzweifelt stürzte er sich zurück in die Erinnerung seines Traums. Es
war ihm ganz klar, daß der Dampfer, auf dem er die Konzertreise nach
Amerika unternommen, eigentlich das Schiff bedeutet hatte, auf dem Ägidius
seinem düstern Schicksal entgegenfuhr. Und der Kiosk mit der Musikkapelle
war die Halle gewesen, wo den Ägidius der Tod erwartete. Wundervoll hatte
der Sternenhimmel sich über das Meer gebreitet. Die Luft war so blau und die
Sterne so silbern gewesen, wie er sie im Wachen niemals gesehen, nicht
einmal in der Nacht, da er mit Grace von Palermo nach Neapel gereist war.
Plötzlich wieder, flüsternd und weh, klang durch das Dunkel die Stimme der
geliebten Frau: Wie bald wirst du mich vergessen haben… Und nun sah er sie
selbst vor sich, wie er sie vor wenig Stunden erst gesehen, das dunkle Haar
über die Polster fließend, bleich und nackt. Er wollte nicht dran denken,
beschwor andre Bilder aus den Tiefen seiner Erinnerung hervor, jagte sie mit
Willen an sich vorbei… Er sah sich auf einem Friedhof umhergehen in
213
back to the
book Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik