Page - 214 - in Der Weg ins Freie
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schmelzendem Februarschnee, mit Grace; er sah sich mit Marianne über eine
weiße Landstraße dem winterlichen Wald entgegenfahren; er sah sich mit
seinem Vater in später Abendstunde über die Ringstraße wandeln; und endlich
drehte sich sausend ein Ringelspiel an ihm vorüber, Sissy mit lachenden
Lippen und Augen schaukelte auf einem hölzernen, braunen Pferde, Else
anmutig-damenhaft saß in einem roten Wägelchen, und Anna ritt einen
Araber, lässig die Zügel in der Hand. Anna! Wie jung und holdselig sie
aussah! War das wirklich dieselbe, die er in wenigen Stunden wiedersehen
sollte; – und war er wirklich nur zehn Tage von ihr fern gewesen? Und sollte
er nun alles wiedersehen, was er vor zehn Tagen verlassen hatte: zwischen
Blumenbeeten den kleinen Engel aus blauem Ton, den Balkon mit dem
hölzernen Giebel, den stillen Garten mit den Johannisbeerstauden und
Fliederbüschen? Ganz unfaßbar erschien ihm das. Auf der weißen Bank unter
dem Birnbaum wird sie mich erwarten, dachte er. Und ich werde ihre Hände
küssen, als wäre nichts geschehen. »Wie gehts dir, Georg«, wird sie mich
fragen, »bist du mir treu gewesen?« Nein… das ist nicht ihre Art zu fragen.
Aber ohne daß sie fragt und ohne daß ich antworte, wird sie fühlen, daß ich
nicht mehr als derselbe wiederkomme, der ich gegangen bin. Wenn sies doch
fühlte! Wenn es mir erspart bliebe zu lügen! Aber hab ichs nicht schon getan?
Und er dachte an die Briefe, die er ihr geschrieben hatte vom Seeufer her,
Briefe voll Zärtlichkeit und Sehnsucht, die ja auch schon Lüge gewesen
waren. Und er dachte daran, wie er nachts gewartet hatte mit klopfendem
Herzen, das Ohr an die Tür gepreßt, bis alles im Gasthof still geworden, wie
er dann über den Gang geschlichen war, zu jener andern, die bleich und nackt
dagelegen war, mit offenen, dunkeln Augen, umströmt vom Duft und
bläulichen Glanz ihrer Haare. Und er dachte dran, wie er und sie in einer
Nacht halbtrunken vor Lust und Verwegenheit auf den Balkon hinausgetreten
waren, unter dem verführerisch das Wasser rauschte. Wär einer in der tiefen
Finsternis dieser Stunde draußen auf dem See gewesen, so hätte er die weißen
Leiber durch die Nacht leuchten sehen. Georg bebte in der Erinnerung. Wir
waren nicht bei Sinnen, dachte er. Wie leicht hätte es sein können, daß ich
heute sechs Schuh unter der Erde läge, mit einer Kugel mitten durchs Herz.
Es kann noch immer so kommen. Sie wissens ja alle. Else hat es zuerst
gewußt, obwohl sie kaum je aus dem Auhof in den Ort heruntergekommen
ist. James Wyner hats ihr wohl erzählt, der mich am Abend mit der Fremden
auf der Landungsbrücke hat stehen sehen. Ob Else ihn heiraten wird? Daß er
ihr so gut gefällt, kann ich verstehen. Er ist schön. Dieses gemeißelte Antlitz,
diese kalten, grauen Augen, die klug und gerade in die Welt schauen. Ein
junger Engländer. Wer weiß, ob in Wien nicht auch eine Art von Oskar
Ehrenberg aus ihm geworden wäre? Und es fiel Georg ein, was Else ihm von
ihrem Bruder erzählt hatte. Auf dem Krankenbett im Sanatorium war er
Georg so gefaßt, beinahe gereift erschienen. Und jetzt in Ostende sollte er ein
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik