Page - 218 - in Der Weg ins Freie
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Verpflichtung bewußt, ihn mit ihr allein zu lassen. Er hatte sich an den Flügel
gesetzt und zu phantasieren begonnen. Sie war in ihrer dämmrigen Ecke
geblieben, in einem großen Armstuhl. Zuerst hatte er ihr Lächeln noch
gesehen, dann nur das dunkle Leuchten ihrer Augen, dann nur mehr die
Umrisse ihrer Gestalt, dann überhaupt nichts mehr; doch immer gewußt: sie
ist da. Drüben am andern Ufer waren Lichter aufgeblitzt. Die zwei Mädeln in
den blauen Kleidern hatten durchs Fenster hereingeguckt und waren gleich
wieder verschwunden. Endlich hörte er zu spielen auf und blieb stumm am
Klavier sitzen. Da war sie langsam aus der Ecke hervorgekommen, einem
Schatten gleich und hatte ihre Hände auf sein Haupt gelegt. Wie unsäglich
schön war das gewesen! Und alles fiel ihm wieder ein. Wie sie im Kahn
geruht hatten mitten im See, mit eingezogenen Rudern, er den Kopf in ihrem
Schoß; und wie sie am Ufer drüben den Waldweg hinaufgewandert waren bis
zu der Bank unter der Eiche. Dort war es gewesen, wo er ihr alles erzählt
hatte. Alles, wie einer Freundin. Und sie hatte ihn verstanden, wie nie eine
andre ihn verstanden hatte. War sie es nicht, die er seit jeher gesucht hatte, sie,
die Geliebte war und Gefährtin zugleich, mit dem ernsten Blick für alle Dinge
der Welt und doch geschaffen zu jedem Wahnsinn und jeder Seligkeit. Und
gestern der Abschied… Der dunkle Glanz ihrer Augen, der blauschwarze
Strom ihrer gelösten Haare, der Duft ihres bleichen, nackten Leibes… War es
denn möglich, daß es auf immer zu Ende war, daß all dies niemals, niemals
wiederkommen sollte… ?
Georg zerknüllte den Plaid zwischen den Fingern in ohnmächtiger
Sehnsucht und schloß die Augen. Er sah die sanftbewegten Waldhügellinien
nicht mehr, die draußen im Morgenlicht vorbeizogen, und wie zu einem
letzten Glück träumte er sich in die dunkeln Wonnen jener Abschiedsstunde
zurück. Doch wider Willen überkam ihn Mattigkeit nach der durchrüttelten
Eisenbahnnacht, und aus selbstgerufenen Bildern jagte es ihn wieder durch
regellose Träume, über die ihm keine Macht gegeben war. Er ging über den
Sommerhaidenweg, in sonderbarem Dämmerlicht, das ihn mit tiefer
Traurigkeit erfüllte. War es Morgen? War es Abend? Oder trüber Tag? Oder
war es der rätselhafte Glanz irgendeines Gestirns über der Welt, das noch
niemandem geleuchtet hatte, als ihm? Plötzlich stand er auf einer großen,
freien Wiese, wo Heinrich Bermann hin und her lief und ihn fragte: Suchen
Sie auch das Schloß der Dame? Ich erwarte Sie schon lang. Sie stiegen eine
Wendeltreppe hinauf. Heinrich voran, so daß Georg immer nur einen Zipfel
des Überziehers erblicken konnte, der nachschleppte. Oben auf einer riesigen
Terrasse, von der man die Stadt und den See sah, war die ganze Gesellschaft
versammelt. Leo hatte seinen Vortrag über Mollakkorde begonnen, hielt inne,
als Georg erschien, stieg vom Katheder herab und führte ihn selbst zu einem
freien Stuhl, der in der ersten Reihe neben Anna stand. Anna lächelte
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik