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Georgs Füßen. Der Garten mit seinem Duft und seiner Schwüle nahm ihn auf.
Der alte Garten war es. Alle die Tage, die Georg fern gewesen, war er stille
dagelegen, so wie in diesem Augenblick; im Morgenlicht, im Sonnenglanz,
im Abendschatten, im Dunkel der Nacht; immer derselbe… Gerade schnitt
der Kiesweg durch die Wiese nach oben. Kinderstimmen waren jenseits der
Stauden, an denen rote Beeren hingen. Und dort auf der weißen Bank, den
Arm auf der Lehne, sehr bleich, in wallendem blauen Morgenkleid, das war
Anna. Ja wirklich sie. Nun hatte sie ihn erblickt. Sie wollte aufstehen. Er sah
es und sah zugleich, daß es ihr schwer wurde. Warum nur? Bannte die
Erregung sie nieder? Oder war die schwere Stunde schon so nah? Er winkte
ihr mit der Hand, sie sollte sitzen bleiben. Sie setzte sich auch wirklich wieder
hin und hatte nur die Arme leicht ausgebreitet, ihm entgegen. Ihre Augen
leuchteten glückselig. Georg ging sehr rasch, den weichen, grauen Hut in der
Hand, und nun war er bei ihr.
»Endlich«, sagte sie, und es war eine Stimme, die so weither klang wie jene
Worte in ihrem Brief von heut Morgen. Er nahm ihre Hände, schüttelte sie in
einer sonderbar ungeschickten Weise, fühlte irgend etwas in seiner Kehle
aufsteigen, konnte aber noch immer kein Wort sprechen, nickte nur und
lächelte. Und plötzlich kniete er vor ihr auf dem Kies, ihre Hände in den
seinen, sein Haupt in ihrem Schoß, fühlte wie sie ihm die Hände leicht
entzog, sie auf sein Haupt legte; – und dann hörte er sich ganz leise weinen.
Und es war ihm, wie in süß dumpfem Traum, als läge er, ein Knabe, zu seiner
Mutter Füßen, und dieser Augenblick wäre schon Erinnerung, fern und
schmerzlich, während er ihn durchlebte.
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik