Page - 223 - in Der Weg ins Freie
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Tage sich einmal für ein paar Stunden nach Wien geflüchtet, der es vermocht
hatte, auch heute Nacht, während Anna sich in Schmerzen wand, oben in der
Mansarde volle sechs Stunden tief und traumlos zu schlafen.
Er ging längs der abgeblühten Fliedersträucher, riß Blätter ab, zerrieb sie in
der Hand, warf sie zur Erde. Jenseits der niedern Büsche im andern Garten
ging eine Dame im schwarz-weiß gestreiften Morgenkleid. Sie schaute Georg
ernst und wie mitleidig an. Ach ja, dachte Georg, die hat natürlich auch das
Schreien Annas gehört, vorgestern, gestern und heute. Der ganze Ort wußte ja
von den Dingen, die hier vorgingen; auch die jungen Mädchen aus der
geschmacklosen, gotischen Villa, für die er einmal den interessanten
Verführer bedeutet hatte; und geradezu komisch war es, daß ein fremder Herr
mit rötlichem Spitzbart, der zwei Häuser weit wohnte, ihn gestern im Ort
plötzlich verständnis- und hochachtungsvoll gegrüßt hatte.
Merkwürdig, dachte Georg, wodurch man sich bei den Leuten beliebt
machen kann. Nur Frau Rosner ließ durchblicken, daß sie Georg, wenn sie
ihm schon nicht die Hauptschuld an der Schwierigkeit des Falles beimaß,
jedenfalls für ziemlich gefühllos hielte. Er nahm es der guten und gedrückten
Frau nicht übel. Sie konnte natürlich nicht ahnen, wie sehr er Anna liebte. Es
war noch nicht lange her, daß er selber es wußte.
An jenem Ankunftsmorgen, da Georg nach langem, stummem Weinen sein
Haupt aus ihrem Schoß erhoben, da hatte sie keine Frage an ihn gerichtet,
aber in ihren schmerzlich erstaunten Augen las er, daß sie die Wahrheit ahnte.
Und warum sie nicht fragte, das glaubte er zu verstehen. Sie mußte ja fühlen,
wie ganz sie ihn wieder hatte, wie er gerade von jetzt an ihr besser gehörte,
als jemals vorher. Und wenn er ihr in den nächsten Stunden und Tagen von
der Zeit erzählte, die er fern von ihr verbracht, und unter all den
Frauennamen, die er nannte, flüchtig aber unverschweigbar jener ihr neue,
verhängnisvolle erklang, da lächelte sie wohl in ihrer leicht spöttischen Art;
aber kaum anders, als wenn er von Else sprach oder von Sissy, oder von den
kleinen blaugekleideten Mädchen, die ins Klavierzimmer hereingeguckt
hatten, wenn er spielte.
Seit zwei Wochen wohnte er in der Villa, fühlte sich wohl und war in guter
und ernster Arbeitsstimmung. Auf dem Tischchen, wo vor kurzem noch
Theresens Nähzeug gelegen war, breitete er jeden Morgen Partituren,
musiktheoretische Werke, Notenpapiere aus und beschäftigte sich damit,
Aufgaben der Harmonielehre und des Kontrapunkts zu lösen. Oft lag er am
Waldessaum auf einer Wiese, las in irgend einem Lieblingsbuch, ließ
Melodien in sich klingen, träumte vor sich hin, war vom Rauschen der Bäume
und vom Glanz der Sonne beglückt. Nachmittags, wenn Anna ruhte, las er ihr
vor oder plauderte mit ihr. Oft sprachen sie auch über das kleine Wesen, das
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik