Page - 225 - in Der Weg ins Freie
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Sache. Der Schrei drinnen war verklungen, und nur Stöhnen war vernehmbar.
»Und die Herztöne?« fragte Georg.
Doktor Stauber sah an Georg vorbei. »Vor zehn Minuten waren sie noch
deutlich zu hören.«
Georg wehrte sich gegen einen furchtbaren Gedanken, der aus den Tiefen
seiner Seele hervorgejagt kam. Er war gesund, sie war gesund, zwei junge
kräftige Menschen… konnte so etwas denn möglich sein? Doktor Stauber
legte ihm nochmals die Hand auf die Schulter. »Gehen Sie doch spazieren«,
sagte er, »wir rufen Sie schon, wenn’s Zeit ist.« Und er wandte sich ab.
Georg blieb noch einen Augenblick auf der Veranda stehen. In dem groĂźen
Zimmer, das in Spätnachmittagsdämmer zu versinken begann, an der Wand
auf dem Sofa, ganz in sich zusammengesunken, sah er Frau Rosner sitzen. Er
entfernte sich, spazierte rund um das Haus herum und begab sich dann ĂĽber
die Holzstiege in seine Mansarde. Er warf sich aufs Bett, schloĂź die Augen;
nach ein paar Minuten stand er auf, ging im Zimmer hin und her, gab es aber
wieder auf, da der Boden krachte. Er trat auf den Balkon. Auf dem Tisch lag
die Partitur des »Tristan« aufgeschlagen. Georg blickte in die Noten. Es war
das Vorspiel zum dritten Akt. Die Klänge tönten ihm im Ohr. Meereswellen
schlugen dumpf an ein Felsenufer, und aus trauriger Ferne klang die wehe
Melodie des englischen Horns. Er sah über die Blätter weg in den
silberweißen Glanz des Tages. Sonne lag überall, über Dächern, Wegen,
Gärten, Hügeln und Wäldern. Dunkelblau breitete der Himmel sich hin, und
Ernteduft stieg aus den Tiefen. Wie stand es heute vor einem Jahr mit mir?
dachte Georg. Ich war in Wien, ganz allein. Ich ahnte noch nichts. Ich hatte
ihr ein Lied geschickt… »Deinem Blick mich zu bequemen… « Aber ich
dachte kaum an sie… Und jetzt liegt sie da unten und stirbt… Er erschrak
heftig. Er hatte denken wollen… sie liegt in Wehen, und auf die Lippen
gleichsam hatte es sich ihm gestohlen: sie stirbt. Aber warum war er denn
erschrocken? Wie kindisch. Als gäb es Ahnungen solcher Art! Und wenn
wirklich Gefahr da wäre und die Ärzte sich entscheiden müßten, so hatten sie
natĂĽrlich vor allem die Mutter zu retten. DarĂĽber hatte ihn ja Doktor Stauber
vor wenigen Tagen erst aufgeklärt. Was ist denn ein Kind, das noch nicht
gelebt hat? Nichts. In irgend einem Augenblicke hatte er es gezeugt, ohne es
gewünscht, ohne nur an die Möglichkeit gedacht zu haben, daß er Vater
geworden sein könnte. Wußte er denn, ob er es nicht vielleicht auch vor
wenigen Wochen geworden war, in jener dunkeln Wonnestunde, hinter
geschlossenen Läden… auch damals Vater, ohne es gewollt, ohne nur an die
Möglichkeit gedacht zu haben; und vielleicht, wenn es geschehen war, ohne
es jemals zu erfahren?
Er hörte Stimmen, sah hinunter; der Kutscher des Professors hatte ein
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik