Page - 230 - in Der Weg ins Freie
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nun diese vorhergegangenen Monate zu bedeuten gehabt, mit all ihren
Träumen, Sorgen und Hoffnungen? Denn er wußte mit einem Male, daß die
Erwartung der wunderbaren Stunde, in der sein Kind geboren werden sollte,
immer, Tag für Tag, auch am nüchternsten, leersten und leichtfertigsten, in der
Tiefe seiner Seele gewesen war; und er fühlte sich beschämt, verarmt, elend.
Er stand oben am Gartengitter und sah zum Waldesrande auf, zu seiner
Bank, auf der er oft geruht hatte, und ihm war, als wäre auch Wald und Wiese
und Bank früher sein Besitz gewesen und er müsse nun auch das hergeben,
wie so vieles andere. Im Winkel des Gartens stand ein dunkelgraues,
vernachlässigtes Lusthäuschen mit drei kleinen Fensterhöhlen und einer
schmalen Türöffnung. Er hatte es nie leiden mögen und nur einmal auf ein
paar Augenblicke betreten. Heute zog es ihn hinein. Er setzte sich auf die
rissige Bank hin und kam sich plötzlich geborgen und beruhigt vor, als wäre
nun alles, was geschehen, weniger wahr oder in irgendeiner unbegreiflichen
Weise rückgängig zu machen. Doch schwand dieser Wahn bald wieder dahin,
er verließ den unwirtlichen Raum und trat ins Freie. Ich muß jetzt wohl ins
Haus zurück, dachte er müde und faßte es doch nicht ganz, daß in dem
dunkeln Zimmer, das er von hier aus hinter der Veranda, wie eine
unergründliche Finsternis liegen sah, der Leichnam seines Kindes ruhen
sollte. Langsam ging er hinab. Auf der Veranda stand Annas Mutter mit
einem Herrn. Georg erkannte den alten Rosner. Im Überzieher stand er da,
den Hut hatte er auf den Tisch vor sich hingelegt, fuhr sich mit einem
Taschentuch über die Stirn, und es zuckte um seine rotgeränderten Augen. Er
ging Georg entgegen und drückte ihm die Hand.»Das ist ja leider anders
gekommen«, sagte er, »als wir alle erwartet und gehofft hatten.«
Georg nickte. Dann erinnerte er sich, daß der alte Herr in den letzten
Wochen mit dem Herzen nicht ganz in Ordnung gewesen war, und erkundigte
sich nach seinem Befinden.
»Ich danke der Nachfrage, Herr Baron, es geht mir etwas besser, nur das
Stiegensteigen macht einige Beschwerden.«
Georg merkte, daß die Glastüre zum Mittelzimmer geschlossen war.
»Entschuldigen Sie«, sagte er zu dem alten Rosner, schritt geradenwegs auf
die Türe los, öffnete sie und schloß sie rasch wieder hinter sich zu. Frau
Golowski und Doktor Stauber standen in der Nähe des Tisches und sprachen
miteinander. Er trat zu ihnen, sie schwiegen plötzlich.
»Nun?« fragte er dann.
Doktor Stauber sagte: »Wir haben über… die Formalitäten gesprochen.
Frau Golowski wird so gut sein und all das zu besorgen.«
»Ich danke«, erwiderte Georg und reichte Frau Golowski die Hand. »All
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik